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KOMMENTAR/164: Paralympics in London - neoliberale Propagandashow zu Lasten der Schwächsten (SB)




Ein altes Wort von Pastor Martin Niemöller (1892-1984) macht derzeit in Behinderteninitiativen wieder die Runde: "Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte."

Das Zitat des streitbaren Theologen, oft abgewandelt und um diskriminierte und verfolgte Gruppen erweitert, hat an Aktualität nichts eingebüßt. Während in deutschsprachigen Medien die Proteste gegen das französische IT-Unternehmen Atos International, das zu den umstrittenen Hauptsponsoren bei den Paralympischen Spiele in London gehört, nahezu totgeschwiegen werden, um den Glorienschein der um Akzeptanz ringenden Behindertenspiele nicht zu beschädigen, laufen in Großbritannien zahlreiche Aktivisten der Kampagne "Disabled People Against Cuts" (DPAC) Sturm gegen die barbarischen Kürzungspläne der Regierung. Atos Healthcare hat den hochdotierten Auftrag erhalten, im Rahmen des Work Capability Assessment (WCA; Arbeitsfähigkeits-Bewertung) sogenannte Fit-to-work-Tests durchzuführen. Die britische Koalitionsregierung aus Konservativen und Liberaldemokraten will damit die Kosten für Behindertenrenten im Rahmen ihrer Sparpolitik um 20 Prozent kürzen, obwohl der unterstellte Mißbrauch dieser Sozialtransfers nachgewiesenermaßen weniger als ein halbes Prozent der Leistungsempfänger betrifft. Rund 2,6 Millionen Bezieher von Erwerbsunfähigkeitsbeihilfen (Employment Support Allowance/ESA) sollen im Vereinigten Königreich überprüft werden.

Nach Angaben britischer Behindertenverbände, die vor und während der Paralympischen Spiele zahlreiche Protestveranstaltungen organisiert haben, ohne daß dies auf nennenswerte Resonanz in den deutschen Medien stieß, kam es letztes Jahr zu 1.100 Todesfällen - 32 pro Woche - unter als arbeitsfähig eingestuften Behinderten nach Aufnahme ihrer Tätigkeit sowie zahlreichen Selbsttötungen Betroffener. Die Zahlen gehen auf eine Untersuchung der Zeitung Daily Mirror [1] zurück.

Das Unternehmen Atos, an dem die Siemens AG als größter Aktionär etwa 15 Prozent Anteile hält, führte laut Daily Mail zwischen 2010 und 2011 rund 738.000 WCAs durch. Für die entwürdigenden Face-to-face-Tests an Leistungsempfängern, die unter den Prüfblicken der medizinisch geschulten Kontrolleure zu körperlichen Anforderungen genötigt wurden, unter denen sie teilweise zusammenbrachen, kassierte das private Dienstleistungsunternehmen vergangenes Jahr 110 Millionen Pfund - Steuergelder, die der Paralympics-Hauptsponsor zum Teil wieder in den Unterhaltungszirkus in London steckt, um sich als Wohltäter des leistungsorientierten Behindertensports zu profilieren.

"Diese Spiele werden zur Propaganda genutzt, um skrupellose Einschnitte bei Versorgungsleistungen für behinderte Menschen zu rechtfertigen", erklärte John McArdle von "Inclusion Scotland" [2]. Der behinderte Bürgerrechtler ist Mitbegründer der parteiübergreifenden "Black Triangle"-Kampagne [3], die sich den Namen in Anlehnung an das "Schwarze Dreieck" gab, wie es den "Arbeitsscheuen" und "Asozialen" von den Nationalsozialisten ans Zeug geheftet worden war. Tausende der so markierten Menschen, darunter viele marginalisierte Fürsorgeberechtigte, wurden im Dritten Reich in Zwangsarbeit gepreßt, bis sie entweder daran zugrunde gingen oder in den Konzentrationslagern vernichtet wurden.

Sportjournalisten, die daran gewöhnt sind, Propaganda und politischen Mißbrauch der Spiele vorzugsweise in China, Rußland oder im früheren NS-Regime zu verorten, nicht aber in demokratischen Staaten, kritisieren vereinzelt, daß die Behinderten während der Paralympics plakativ zu "Superhumans" (Übermenschen) verklärt würden und daß die Berichterstattung mehr und mehr an die Unterhaltungsindustrie der Olympischen Spiele erinnere [4]. Daß die für den Hochleistungssport geeigneten Vorzeigebehinderten die marktwirtschaftliche Norm vom Überleben der Tüchtigsten reproduzieren, blenden sie dabei ebenso aus wie, daß neoliberale Politiker und Sponsoren die Paralympics-Show nutzen, um soziale, mitunter tödlich endende Selektionspraktiken an den schwächsten und hilfsbedürftigsten Mitgliedern der Gesellschaft hoffähig zu machen.

Der Mechanismus der Bezichtigung, den die neoliberalen Sozialingenieure im Dienste der gnadenlosen Austeritätspolitik gegen "Arbeitsscheue" und "invalide Sozialbetrüger" in Stellung bringen, um die Lasten der Finanz-, Banken- und Schuldenkrisen zu sozialisieren, geht ungefähr so: "Sie sagen: Aufgrund Ihrer schweren Erkrankungen haben Sie noch zwei Jahre zu leben. Falsch! Wir sagen: Das sind 24 Monate, in denen Sie aktiv werden und großartige Arbeit leisten können."

So ist in dem offiziellen "Handbuch für Entscheider" bezüglich der Disability Living Allowance (DLA; Unterhaltsbeihilfe für Behinderte) beispielsweise zu lesen: Die Erwerbsunfähigkeitsbeihilfe (ESA) konzentriert sich darauf, "was Menschen tun können, statt auf das, was sie nicht tun können. Das übergeordnete Prinzip lautet, daß jeder die Möglichkeit haben sollte zu arbeiten und daß Menschen mit einer Krankheit oder Behinderung die notwendige Hilfe und Unterstützung bekommen sollten, für die sie sich in angemessener Arbeit engagieren". Bei Menschen mit begrenzten Fähigkeiten zur Arbeit gehe es darum, jene zu identifizieren und zu unterstützen, die davon profitieren würden, wenn sie hinsichtlich Arbeit und Gesundheit "ihre Aktivitäten maximieren und ihr volles Potential entwickeln". [5]

Das entspricht exakt der neoliberalen Leistungsideologie vom "Self-Empowerment", wie sie bei den gegenwärtigen Paralympics öffentlichkeitswirksam gefeiert wird. Kein geringerer als der englische Premierminister David Cameron brachte sie anläßlich der Eröffnung der Spiele in einem Interview mit dem Paralympics-Sender Channel Four auf den Punkt: Die Spiele könnten den Menschen beibringen, "was sie tun können, anstatt zu fragen, was sie nicht tun können". Diese "Supermenschen" wären in der Lage, persönliche Nachteile aus eigener Kraft zu überwinden, was viele Menschen dazu inspirierte, "all das zu sein, was sie können". [6]

Ähnlich wie das Internationale Olympische Komitee (IOC), das wegen seiner Sponsoring-Verträge mit Dow Chemical, BP, Rio Tinto und anderen Konzernen weltweit in der Kritik steht, rechtfertigt auch das Internationale Paralympische Komitee (IPC) das Engagement von Atos mit der finanziellen Unterstützung, ohne die der Erhalt der Spiele nicht möglich wäre. Körperlich eingeschränkte Eliteathleten, die die Kritik an Atos im Prinzip teilen, befinden sich in dem Dilemma, daß sie Proteste nur insoweit mittragen möchten, als sie ihre oftmals jahrelangen Trainingsaufwendungen und Entbehrungen für ein erlebnis- und erfolgsträchtiges Highlight bei den Paralympics nicht zunichte machen. Mit Hilfe dieses Opportunitätshebels gelingt es den Sportdachverbänden immer wieder, die Athleten als schweigende Funktionsmasse für die Propagandaspiele ihrer Zeit einzuspannen und insbesondere das Entwicklungspotential von Behinderten unter dem Joch leistungsdarwinistischer Wertmaßstäbe zu halten.

Fußnoten:

[1] http://blogs.mirror.co.uk/investigations/2012/04/32-die-a-week-after-failing-in.html

[2] http://blacktrianglecampaign.org/2012/09/02/paralympics-welfare-cuts-propaganda-press-tv/

[3] http://blacktrianglecampaign.org

[4] "Die Berichterstattung von den Paralympics erinnert zunehmend an die Unterhaltungsindustrie Olympias". Von Ronny Blaschke. 01.09.2012.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/sport/1855372/

[5] http://blacktrianglecampaign.org/2012/08/30/use-of-employment-and-support-allowance-information-in-removing-and-denying-claims-for-disability-living-allowance-a-handbook-for-decision-makers-dwp/

[6] http://blacktrianglecampaign.org/2012/08/29/cameron-uses-opening-ceremony-to-justify-benefit-cuts-narrative-libdems-to-barter-support-for-osbornes-10bn-in-further-cuts-for-emergency-wealth-tax- proposal/

7. September 2012