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KOMMENTAR/172: Schiedsrichter totgeprügelt - Sozialkrieg auf dem Fußballplatz (SB)




"Der Fußball ist nicht nur ein Spiegelbild der Gesellschaft, sondern in ihm bündeln sich die gesellschaftlichen Probleme wie in einem Brennglas", heißt es aus berufenem Munde [1]. Als in Deutschland vor ein paar Jahren immer öfter gewaltsame Übergriffe von jugendlichen Spielern auf Schiedsrichter ruchbar wurden, beschäftigte dies auch den Sportausschuß des Deutschen Bundestages. Wissenschaftliche Experten setzten die Abgeordneten ins Bild und berichteten über die Entwicklung, Häufigkeit und Ursachen von Gewaltausbrüchen im deutschen Amateur- und Jugendfußball. Im Blickpunkt standen nicht nur Tätlichkeiten gegenüber Schiedsrichtern, sondern auch verschiedenste Konfliktkonstellationen bei deutschen Jugendspielern sowie Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Damals konstatierte der verbandsnahe "Fan- und Gewaltforscher" Prof. Gunter A. Pilz von der Uni Hannover, daß der sportliche Wettkampf auf dem Spielfeld Stellvertreterfunktion angenommen habe für den Kampf um soziale Anerkennung und Gleichbehandlung. Der Sport sei Austragungsort eines sozialen Konflikts, in dem Mehrheitsgesellschaft und Migranten um die Veränderung der sozialen Rangordnung, die Verteilung von Ressourcen und die Anerkennung kultureller Normen kämpften. Es zeige sich, so Prof. Pilz in einem FAZ-Beitrag [1], daß ausländische Jugendliche um so häufiger zu Gewalt griffen, je länger sie in Deutschland lebten. Irgendwann spürten sie das Gefühl, unter sozialen Nachteilen zu leiden und nur Integrationsleistungen bringen zu müssen, aber keine Gegenleistungen zu erhalten. "Es sind junge Menschen, die sich wie Deutsche fühlen, aber merken, dass sie ihre Bedürfnisse und Chancen nicht in der gleichen Weise verwirklichen können", sagte Pilz. Schon früher hatte der Soziologe die These vertreten, daß sich die hohe Sensibilität der Migranten gegenüber jeglicher Form der Nichtachtung persönlicher Integrität nicht nur aus den ungleichen Chancen, sondern auch aus der herrschenden Fremdenfeindlichkeit erkläre.

Wendet man das "Brennglas" nun in Richtung Niederlande, wo ein Schiedsrichter infolge einer "Prügelattacke" durch mehrere jugendliche Fußballer einer Amateurmannschaft verstorben ist, dann sucht man zumindest in der deutschen Sportberichterstattung vergebens nach Hinweisen darauf, welche Verteilungskämpfe und sozialen Ausschließungsmechanismen wohl zur Disposition stehen könnten.

Mehrere Spieler des Vereins SV Nieuw Sloten aus Amsterdam im Alter von 15 bis 17 Jahren hatten den 41jährigen Linienrichter Richard Nieuwenhuizen, dessen Sohn in der gegnerischen Mannschaft spielte, kurz nach dem Schlußpfiff angegriffen, angeblich weil sie mit einer Entscheidung nicht einverstanden waren. FIFA-Präsident Joseph S. Blatter reagierte mit Bestürzung auf den gewaltsamen Tod des ehrenamtlichen Schiedsrichters und sprach von einer "fürchterlichen Tragödie". Fußball sei "ein Spiegel der Gesellschaft und wird von den gleichen Leiden heimgesucht - in diesem Fall Gewalt", schrieb Blatter auf der Internetseite des Fußball-Weltverbandes [2], "dennoch bleibe ich davon überzeugt, dass der Fußball durch den unermüdlichen Einsatz von Menschen wie Herrn Nieuwenhuizen eine Kraft für das Gute ist. Und wir müssen die positiven Beispiele weiterhin nutzen, um Menschen gegen diese Ungerechtigkeiten zu erziehen."

Obwohl die niederländische Tageszeitung "De Telegraaf" schon frühzeitig bekanntgegeben hatte, daß es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Marokkaner gehandelt habe, verzichteten sämtliche deutschen Leitmedien darauf, die ethnische Herkunft der Spieler zu erwähnen - angeblich weil dies gegen den Kodex des Presserates verstoße. Das führte zu der skurrilen Situation, daß zunächst nur in einigen Kommentarspalten der Internet-Zeitungen sowie in Foren und Blogs die unterschlagene Information preisgegeben wurde. Während sich die Sportredaktionen den Anschein geben konnten, keine ausländer- oder fremdenfeindlichen Stimmungen durch den Hinweis, die Täter seien Marokkaner gewesen, Vorschub geleistet zu haben, nahmen insbesondere islamophobe und rechte Kommentatoren die offizielle Verschweigepolitik als Vorlage, mit sozialrassistischen Parolen über "muslimische Täter" herzuziehen, die von der "Multi-Kulti-Gesellschaft" geschützt würden. Unterhalb dessen fehlte auch der Hinweis nicht, daß Sport und Politik offenbar kein Interesse haben, den in Deutschland zum "Motor der Integration" hochstilisierten Sport durch eine polarisierende Migrantendebatte in Frage zu stellen.

Wie es um die "Kraft des Guten", die dem Erziehungsmittel Fußball angeblich innewohne, wirklich bestellt ist, hatte der niederländische Fußballverband in Form von drakonischen Sanktionen und Kollektivstrafen gegen Jugendliche bereits hinlänglich demonstriert. Ähnlich wie in Deutschland, wo derzeit Innenminister, Polizeipraktiker und weitere Funktionsträger des organisierten Sports mit immer härteren Zwangs- und Sanktionsmaßnahmen gegen Verfehlungen im Fußball vorgehen wollen, hatte auch der niederländische Fußballverband KNVB auf das vermeintliche Heilmittel "mehr Repression" gesetzt. Nachdem es im Jugend- und Amateurbereich immer häufiger zu gewalttätigen Zwischenfällen gekommen sein soll, wurde ein drastischer Strafenkatalog durchgesetzt. Wegen Tätlichkeiten und anderen Unsportlichkeiten nahm der KNVB allein in der vergangenen Spielzeit 105 (!) Amateurmannschaften aus den Ligen. 74 Spieler wurden lebenslang gesperrt, 200 für zwei Jahre. Zwar konnten dadurch die Aggressionen auf den niederländischen Fußballplätzen etwas gesenkt werden (möglicherweise haben sie sich nur in andere Bereiche verlagert), dennoch registrierte der KNVB in der vergangenen Saison insgesamt noch 873 Vorfälle, wobei nur die schlimmsten Attacken von den Vereinen gemeldet worden sein sollen.

Die harten Kollektivstrafen auch gegen Unschuldige sowie die lebenslangen Stadionverbote sorgten für großen Unmut und auch Wut bei den niederländischen Jugendlichen und Vereinen, so daß sich der KNVB veranlaßt sah, die Sanktionen im Sommer wieder etwas zu lockern. Statt lebenslänglicher Sperren verhängt er nun nur noch dreijährige Sperren. Offizielle Begründung: Man wolle den Jugendlichen eine zweite Chance geben.

Die Jugendlichen in Holland werden sich ihren Reim darauf gemacht haben, daß Sport und Politik zuvor nicht willens waren, ihnen eine zweite Chance zu gewähren. Statt dessen setzten sie auf unerbittliche Härte. Stimmt die These, wonach sich Gesellschaft und Fußball wechselseitig spiegeln oder beeinflussen, dann muß man auch von einem wechselseitigen Lern- und Erziehungprozeß ausgehen: Was die Fußballoberen mittels Verfügungsgewalt erbarmungslos gegen jugendliche Missetäter durchsetzen, zahlt das Individuum, das die Maximen sportkonformer Gewaltregulation zu verinnerlichen beginnt, auf dem Fußballplatz mit ähnlicher Konsequenz und Härte heim - brutale "Kollateralschäden" inbegriffen.

Geht man weiterhin davon aus, daß Jugendliche die Probleme der Gesellschaft mit in den Sport hineintragen, dann gilt das auch uneingeschränkt für Migranten in Holland, die zunehmend gewahr werden, daß die vielgerühmte bürgerliche Toleranz ihnen gegenüber nur so weit reicht, wie es die kapitalistische Krisengesellschaft erlaubt. Verknappen sich die Ressourcen, sucht die Mehrheitsgesellschaft nach Schuldböcken unter Minderheiten oder "Überflüssigen", und in der Regel trifft es zuerst die Sozialschwachen oder Ausländer. Nicht von ungefähr übte Geert Wilders, Chef der rechtspopulistischen und islamfeindlichen Freiheitspartei (PVV), im letzten Jahrzehnt mit seiner menschenverachtenden Polemik großen Einfluß auf den politischen Diskurs in den Niederlanden und den EU-Raum aus. Der Rechtsaußenpolitiker, dessen Partei immer dann an Boden gewinnt, wenn die Volksseele kocht, erklärte auch den Tod des niederländischen Linienrichters zu einem "Marokkanerproblem".

Wilders Sozialhetze gegen Minderheiten hat indessen längst die bürgerliche Mitte erreicht. Vor wenigen Tagen berichtete stern.de [3], daß Amsterdams sozialdemokratischer Bürgermeister angekündigt habe, "anti-soziale Bürger" ab Januar in sogenannten Siedlungslagern unterzubringen. "Diese 'Abschaum-Dörfer', benannt nach Wilders' Idee, bestehen aus Containern und sollen unter ständiger Polizeiaufsicht stehen." Wie der Stern unter Berufung auf Angaben der englischen Zeitung Telegraph weiter schrieb, seien Grund für diese rabiate Maßnahme die jährlich 13.000 Beschwerden, die bei den Behörden wegen "unsozialen Verhaltens" eingingen. Schon jetzt sollen in den Niederlanden kleine Containersiedlungen für auffällige Unruhestifter aus Problemvierteln bestehen. Spezialeinheiten würden sie zu halbjährigen Benimmkursen verdonnern. "Für den Fall, dass sie keine Besserung zeigen, droht ihnen der Rauswurf aus ihrer Wohnung, im schlimmsten Fall sogar Obdachlosigkeit", so der Stern.

Eine Gesellschaft, die ihren einheimischen oder migrantischen "Abschaum" in Ghettos entsorgen und mit härtesten Disziplinarmaßnahmen zur Räson bringen will, weil sie das kapitale Problem mangelnder Lebenschancen für alle Bürger nicht anpacken will, muß sich nicht wundern, wenn die Verhaltensweisen und Umgangsformen insgesamt immer feindseliger und brutaler werden - auch auf dem Fußballplatz. Um keine grundsätzliche Gesellschaftskritik zu entfachen, die sowohl die rechtspopulistischen als auch die sozialtechnokratischen und neoliberalen Politikkonzeptionen ins Visier nimmt, sichern sich die Mainstreammedien in mehrere Richtungen ab: Weder üben sie Kapitalismuskritik noch stellen sie den konkurrenzgetriebenen Fußball als Reparaturbetrieb für die gesellschaftlichen Verwerfungen in Frage. Am Ende sind es dann doch immer die Randalierer, Betrüger, Gewalttätigen oder Verbrecher, die die Schuld dafür tragen, daß der Kapitalismus nicht richtig funktioniert. Man müsse nur härtere Strafen verhängen und mehr Geld in Präventionsprogramme stecken, so auch das Credo vieler Sozial- und Sportfunktionäre hierzulande, damit der Respekt gegenüber den obrigkeitlichen (Schieds-)Instanzen zurückkehre und sich ein harmonisches Miteinander bilde. In den Niederlanden werden inzwischen sogar Vorschläge laut, zur strikten Durchsetzung von Werten, Normen und Regeln die Autorität von Schiedsrichtern mit der von Polizisten gleichzustellen. Die generelle Tendenz zur Verpolizeilichung des Sports scheint auch hier ihren Lauf zu nehmen. Daß verschärfte Sozialkontrolle ein anderer Ausdruck für Gewalt von oben ist, um die Krisenentwicklung der dem Ökonomiediktat unterworfenen Gesellschaften, Organisationen und Verbände unter dem Deckel zu halten, gehört offenkundig nicht zum Themenfeld, das sich zur Sportberichterstattung eignet.

Fußnoten:

[1] "Fan- und Gewaltforscher" Prof. Gunter A. Pilz, Uni Hannover. In:"Gewalt im Fußball". 13.11.2008.
http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/gewalt-im-fussball-brennglas-gesellschaftlicher-probleme-1728427.html

[2] Blatter laments Nieuwenhuizen tragedy. 04.12.2012.
http://www.fifa.com/aboutfifa/organisation/president/news/newsid=1965261/index.html

[3] http://www.stern.de/politik/ausland/plan-gegen-anti-soziale-buerger-amsterdam-pfercht-unruhestifter-in-abschaum-doerfer-1937282.html

13. Dezember 2012