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KOMMENTAR/190: Okkupation der Herzen (SB)


Bomben und Bälle: Sport vernebelt Schreckensbilanz der Kriegskoalition in Afghanistan



Das Projekt der westlichen Wertegemeinschaft, in Afghanistan gewaltsam eine zivilgesellschaftliche Entwicklung nach eigenem Vorbild anzustoßen, ist auf ganzer Linie gescheitert. Nach über zehn Jahren Krieg mit mehr als 13.000 getöteten Soldaten, darunter 3300 der alliierten Besatzungsmächte, sowie einem Vielfachen an verkrüppelten oder getöteten Zivilisten sollen die Stellungen am Hindukusch bis Ende 2014 wieder geräumt werden. Keineswegs komplett, wie zwischenzeitlich behauptet wurde. Je nach Planspiel sollen bis zu 35.000 Soldaten der Koalition in dem gebeutelten Land zurückbleiben, darunter auch 600 bis 800 Bundeswehrsoldaten. Steigende Opferzahlen bei afghanischen Soldaten und Polizisten sowie anhaltende Kämpfe und Anschläge geben Grund zur Annahme, daß mit dem Abzug der NATO-Truppen das humanitär bemäntelte "Nation Building"-Projekt in eine neue Phase blutiger Eskalation übertreten wird. Daß es den 350.000 afghanischen Sicherheitskräften, die die von den USA eingesetzte und bezahlte Marionettenregierung um Präsident Hamid Karsai stützen soll, gelingen könnte, die unter dem Begriff "Taliban" subsumierten Aufständischen in Schach zu halten, ist zweifelhaft. Zumal die Wunden und Verheerungen, die auch die Bundeswehr in Afghanistan hinterlassen hat - man denke hier nur an das von einem Bundeswehroberst mitzuverantwortende "Massaker von Kundus" -, von der leidtragenden Bevölkerung wohl kaum als "Kollateralschäden" goutiert werden. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan, deren Angehörige nicht von Drangsalierungen, Vergewaltigungen, Folterungen bis hin zu Tötungen im Rahmen des Enduring-Freedom-Einsatzes zu berichten wüßten. Unter welchen Vorwänden oder Täuschungsmanövern westliche Kriegsallianzen auch immer in andere Länder einfallen, um ihre geostrategischen Interessen zu sichern, Beispiele wie Afghanistan, Irak oder Libyen zeigen, daß der "demokratische Interventionismus" die sozialen, ethnischen oder religiösen Konflikte in den betroffenen Gesellschaften eher noch verschärft und eigenständige Entwicklungen sozialer Emanzipation sogar verhindert hat.

Um in Anbetracht der blutigen Schadensbilanz und der desaströsen gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan - Frauen- und Menschenrechte sind das Papier nicht wert, auf denen sie stehen; über die Hälfte der Familien lebt in extremer Armut, jedes zehnte Kind stirbt, bevor es das Grundschulalter erreicht; über 80 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Kabul - überhaupt etwas zu haben, was nach innen und außen den Eindruck erzeugen könnte, die Dinge würden sich zum Besseren wenden, griffen die Besatzer von Anfang an auch auf den Sozialkitt des Sports zurück. Dies bot sich schon deshalb an, weil das Taliban-Regime den Sport brutal unterdrückte, insbesondere wenn er von Mädchen oder Frauen betrieben wurde, und sich die begleitende Kriegslegitimation auch darauf stützte, die leidvolle Situation des weiblichen Geschlechts in der afghanischen Stammes- und Patriarchalgesellschaft zu verbessern.

Obwohl der (ökonomisierte) Sport in den entwickelten Industriegesellschaften selbst in hohem Maße kritikwürdig ist, wird er immer noch als probates Mittel zivilgesellschaftlicher Entwicklung gepriesen. Dies vollkommen ungeachtet der zweifelhaften Rolle, die er etwa bei der Durchsetzung kolonialer Maßnahmen und imperialer Ordnungen in Afrika und anderen "unterentwickelten" Ländern spielte. Als handele es sich beim Sport um eine über jeden Zweifel erhabene Sozialtechnologie, wurde auch von deutscher Seite frühzeitig darauf hingewirkt, spezielle Entwicklungsprojekte in Afghanistan anzustoßen und organisierte Sportstrukturen zu schaffen. Schon 2002 wurde der Fußball-Entwicklungshelfer Holger Obermann im Rahmen eines Entwicklungshilfe-Programmes der FIFA (GOAL) nach Afghanistan geschickt, um "die Infrastruktur und Wünsche der Einheimischen nach Unterstützung im Sport und Fußball" zu analysieren, so die scheinbar selbstlose Darstellung des DOSB [1]. Zusammen mit Ali Askar Lali, der 1980 mit der afghanischen Nationalmannschaft nach Deutschland immigriert war, kümmerte sich Obermann fortan um den Wiederaufbau des Fußballs am Hindukusch. Die Gelder für die Vorzeigeprojekte kamen hauptsächlich aus den Töpfen von FIFA, DFB, DOSB (bzw. früher NOK/DSB) sowie Bundesinnenministerium, Auswärtigem Amt und dem deutschen Bundesunternehmen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ). Zudem beteiligten sich Stiftungen und Unternehmen mit Geld- und Sachleistungen; Bundeswehr- und Polizeieinheiten leisteten ebenfalls Unterstützung. So entstanden Bolzplätze, wurden Bälle, Tore und weitere Ausrüstung organisiert, Mannschaften gebildet, Straßen- und Schul-Wettbewerbe veranstaltet, regionale und überregionale Meisterschaften ausgetragen oder Nationalmannschaften aufgebaut. Auch Mädchen und Frauen wurde der Zugang zum Sport ermöglicht, in der Regel ausgeübt in der Halle und anderen geschützten Orten. Um die "Wechselwirkungen von Sport, Frieden und Gleichberechtigung" zu unterstützen, heißt es im gutgeölten UN-Jargon, wurden Trainerinnen und Sportlehrerinnen ausgebildet, Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt und vieles mehr.

Wie Obermann in der DOSB-Presse berichtete [2], kam es sogar zu Fußballspielen gegen Militärmannschaften der ISAF (Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe). Dies als Ausweis dafür zu nehmen, daß der Sport selbst unter den Bedingungen des Krieges soziale Brücken schlagen kann oder daß er trotz Besatzung kulturelle Freiräume offenhält, ist eine Lesart.

Historische Zeitzeugenberichte oder auch aktuelle Beispiele aus Gefängnissen und Internierungslagern zeigen, daß die Sporttechnologie offenbar geeignet ist, selbst unter repressivsten Verhältnissen noch Selbstbestätigung, Emotionalität, Geselligkeit, Identifikation oder Unterhaltung zu stiften. Dies dürfte auf seiten der Gefangenen nicht zuletzt dem verständlichen Wunsch geschuldet sein, Stacheldraht, Mauern und Maschinengewehre zumindest für die Zeit des Spiels vergessen zu machen. Oder vielleicht sogar, um befristet auf eine "sportlich faire" Behandlung zu hoffen, wenn es, wie etwa im KZ Auschwitz geschehen, unter den Augen der SS-Offiziere zu Fußballspielen der Insassen gegen die Kapos kam.

Der Blick auf die Sportgeschichte lehrt, daß es viele Beispiele für das menschliche Bestreben gibt, sich im Angesichte tödlicher Bedrohungen und existenzieller Gefahren an gewohnte Bedingungen und geordnete Verhältnisse zu klammern, wie sie der Sport mit seinen Erfolgsbestätigungen und Identifikationsangeboten offeriert. Obwohl die deutsche Wehrmacht, die 1941 das Baltikum, Weißrußland sowie große Teile der Ukraine besetzt hatte, eine grausame Jagd auf Partisanengruppen wie auch jüdische Einwohner, kommunistische Funktionäre und Sinti und Roma begonnen hatte, kam es in den besetzten Ländern dennoch zu Fußballspielen gegen deutsche Militärteams. Bezugnehmend auf eine internationale sporthistorische Konferenz der Schwabenakademie Irsee, die sich mit der Rolle des Fußballs im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte, sendete Deutschlandradio Kultur im vergangenen Jahr einen interessanten Beitrag [3]. "Was für heutige Zeitgenossen kaum vorstellbar erscheint: Auch unter der Besatzung wurde Fußball gespielt", heißt es da von seiten des Autors, worauf Alexander Friedman, gebürtiger Weißrusse und seit Ende 2011 Lehrbeauftragter für Geschichte an der Uni Heidelberg, erläutert:

"Fußball war ein Teil des Alltags, und für die Bevölkerung war es möglich, sich abzulenken, zu spielen und nicht zuletzt mit Deutschen in Kontakt zu kommen. Ich glaube schon, dass diese Fußballspieler aus Weißrussland und der Ukraine, die hatten Interesse gehabt, gegen Deutsche zu spielen und eventuell Kräfte zu messen und vielleicht sogar zu gewinnen. Und was Propaganda angeht: Propaganda hat Sport und insbesondere Fußball verwendet, um die Bevölkerung vom grausamen Alltag, von der Vernichtungspolitik, von dem Krieg überhaupt abzulenken."

Hinter der Sportpropaganda in besetzten Ländern stecken in der Regel handfeste Kriegs- und Befriedungsstrategien. Ohne Zweifel dient die Duldung oder Unterstützung des Sportes auch als strategisches Mittel, ein zorniges und widerständiges Volk mit emotionalisierenden Spielen, sportlichen Rivalitäten und sozialen Triumphen ruhigzustellen. Dies gelingt um so besser, wenn sich in besetzten Gebieten bereits moderne Sportkulturen herausgebildet haben, so daß den Einwohnern der "Sportbazillus" nicht erst eingeimpft werden muß.

Nun soll die Besetzung Osteuropas durch Hitler-Deutschland nicht mit der Besetzung Afghanistans durch die ISAF- und NATO-Truppen gleichgesetzt, wohl aber die Funktion und Propagandawirkung des Sports sowohl in den besetzten Gebieten als auch im eigenen Land verglichen werden. Bilder und Berichte über ein begeistert Sport treibendes, ihre Helden feierndes und Nationalfähnchen schwenkendes Afghanenvolk, das Athletinnen und Athleten zu Olympischen Spielen entsendet, gegen Militärmannschaften oder gegen den "Erzrivalen" Pakistan Fußballspiele austrägt, lassen sich auch in den Ländern der Kriegskoalition zweifellos besser verkaufen als Berichte über die neuesten Gewaltoperationen, Drohnentoten oder Traumatisierungsraten.

Wer die Berichte des DOSB über zehn Jahre Sportaufbau in Afghanistan liest, bekommt die ganze Palette von Lebenshilfe, Persönlichkeitsformung und Integrationswirkung bis hin zu Friedensstiftung und Nationbuilding durch Fußball serviert: "Fußball trägt in Afghanistan zum Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen bei" (2003), "Frauenfußball in Afghanistan entwickelt sich rasch" (2005), "Fußball bedeutet Ablenkung von Sorgen, Bomben und Raketen" (2008), "Nichts eint Afghanistan besser als Fußballspiele" (2013). Natürlich fehlt auch der Hinweis nicht auf "ein wenig Normalität", die deutsche Sportexperten "in das von Zerstörung und Blutvergießen geprägte Land" (2010) brachten. Ähnliche Credos durchziehen sämtliche deutsche Leitmedien.

Unter dem Motto "Fußball öffnet Kinderherzen" kommt es an der Heimatfront inzwischen sogar zur Kooperation von Bundeswehr und Sportvereinen. Thema ist nicht etwa, welch destruktive "Sicherheits- und Verteidigungspolitik" afghanische Kinderherzen wohl verschlossen haben könnte, sondern wie man durch gemeinsame Spenden- und Sammelaktionen in Deutschland "Kindern in Afghanistan durch Sport ein Stück Normalität in ihr eigenes Umfeld" [4] bringt. Diese nur als zynisch zu bezeichnende Kollateralverschleierung findet ihren trefflichen Ausdruck in einem Antikriegsgedicht aus der Zeit der ersten Jahre der US-geführten westlichen Intervention:


Hosenmatz
Räch' die Brüder und die Väter,
haben sie zu dir gesagt,
Tränen rollen besser später
und am Ende wird geklagt.
Nimm deine Waffe und das Messer,
den Rest, den lernst du auf dem Feld,
mit jedem Toten wird es besser
und wenn du siegst, bist du ein Held.
Mit jeder neuen Angriffswelle,
die 's dir gelingt, zurückzuwerfen,
vernichtest du nur Kriminelle,
um ihre Mordlust zu entschärfen.
Bald ist Afghanistan befreit
von diesen kranken Terroristen,
denn es siegt die Gerechtigkeit
der Moslems, Juden und der Christen.
Daß du, dreizehn Jahre alt,
gerne in der Schule wärst
und geschützt vor der Gewalt,
die du auf dem Feld erfährst,
oder mit den vielen
Freunden auf dem Fußballplatz
lieber bist zum Spielen,
dafür kämpfst du, Hosenmatz.
Erstveröffentlichung am 5. Dezember 2001
Copyright by MA-Verlag


Nebenher nutzt das Luftlandeunterstützungsbataillon 262 im saarländischen Merzig, das die Sammelaktion "Fußball öffnet Kinderherzen" u.a. mit der Soldaten- und Polizisten-Initiative für Kinder in Kriegs- und Krisengebieten "Lachen helfen e.V." initiiert hat, den rührigen Slogan an Werbe-Ständen, um die Besucher auf "die beruflichen Möglichkeiten des Arbeitgebers Bundeswehr" aufmerksam zu machen. Die Empathie entfachenden Hilfsinitiativen sind Bestandteil der "vernetzten Sicherheitspolitik" bzw. "zivil-militärischen Zusammenarbeit" und darauf ausgerichtet, den Krieg und seine Opfer auf sozialverträgliche Weise gesellschaftsfähig zu machen.

Wie "Normalität" nach Maßgabe westlicher Konsumgesellschaften aussehen könnte, läßt die 2012 ins Leben gerufene "Roshan Afghan Premier League (APL)" erahnen - die erste professionelle Fußball-Liga in Afghanistan, die von einem privaten Telekommunikationsunternehmen gesponsert wird. Nach dem Strickmuster hiesiger Casting-Shows wie "Deutschland sucht den Superstar" oder "Germany's next Topmodel" wurde dafür eigens eine landesweite Talenteschau organisiert. Mit Unterstützung von TV- und Radiostationen zogen wochenlang Scouts durch das Land, um die besten Kicker ausfindig zu machen. "Nach einer Vorauswahl mussten die jungen Männer vor den Kameras in verschiedenen Prüfungen ihr Talent unter Beweis stellen. Das letzte Wort hatten eine Jury sowie das TV-Publikum, das jeweils drei der Auserwählten per SMS bestimmen konnte", berichteten hiesige Medien wohlwollend über die Casting-Show "Afghanistan sucht den Fußballstar" [5].

Nationbuilding mit Hilfe von "BILD, BamS und Glotze" könnte man mit den Worten von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder auch sagen, der im Jahr 2002 zusammen mit Franz Beckenbauer Kabul besucht hatte. Beide, der "Medienkanzler" und der "Fußballobbyist", sollen nach Darstellung von Projektleiter Holger Obermann den Anstoß für den Wiederaufbau des Fußballs in Afghanistan gegeben haben. Im Jahr zuvor hatten amerikanische und britische Luftverbände strategische Ziele, Städte und vermutete Ausbildungslager von Al-Qaida in Afghanistan angegriffen, worauf im November 2001 336 Abgeordnete von SPD und Grünen einem Antrag der Bundesregierung zur Entsendung von bis zu 3.900 Soldaten der Bundeswehr als Unterstützung der internationalen Anti-Terror-Operation Enduring Freedom unter Federführung der USA zustimmten. Eine Entscheidung, die Altkanzler Schröder mit der Vertrauensfrage verknüpft hatte. Zuvor hatte er im Fernsehen die "Enttabuisierung des Militärischen" gefordert.

Den Militäraktionen am Hindukusch wurden schnell auch zivilgesellschaftliche Komponenten beigefügt, um den "Krieg gegen den Terrorismus" mit humanitären Hilfsaktionen propagandistisch abzufedern. Inzwischen hat sich ein regelrechter NGO-Zirkus aus Hunderten von Hilfsorganisationen etabliert, der große, wenn nicht gar sämtliche Bereiche des kulturellen Lebens in Afghanistan finanziert und prägt. Die meisten Vorzeigeprojekte des Sports (neben Fußball auch Cricket, Volley-, Hand- oder Basketball sowie einige Kampfsportarten) sind auf die "Festung" Kabul konzentriert, auch die Spiele der acht Fußball-Teams in der neuen Profiliga. Dies liegt zum einen daran, daß andere Orte nicht sicher sind, zum anderen, daß in den bettelarmen Provinzen weder Kultur noch Geldmittel für den Aufbau eines modernen Leistungs- und Arenasports, wie er die Menschen in den westlichen Geberländern am Band hält, vorhanden sind. Das Land liegt in Schutt und Asche und hat eine der höchsten Mütter- und Kindersterblichkeitsraten der Welt - kein Wunder, daß Bolzplätze, TV-Castings und militärfreundliche Charity-Aktionen die "Demokratie-Bomben" der Geber vergessen machen sollen.


Fußnoten:

[1] http://www.dosb.de/de/olympia/olympische-news/detail/news/holger_obermann_als_fifa_inspekteur_nach_afghanistan/. 16.08.2002.

[2] http://www.dosb.de/de/olympia/olympische-news/detail/news/impressionen_aus_afghanistan/. 20.06.2003.

[3] "Todesspiele und Bombenterror - Fußball im Zweiten Weltkrieg". Von Günter Herkel. 19.02.2012.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/nachspiel/1660802/

[4] http://www.lachen-helfen.de/news/fussball-oeffnet-kinderherzen.html. Juni 2013.

[5] http://www.ftd.de/sport/fussball/auslandsfussball/news/:afghanistan-sucht-den-fussballstar-per-casting-show/70082526.html. 28.08.2012.

5. September 2013