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KOMMENTAR/240: Kenias Not, des Westens Brot (SB)


Marathondoku "The Long Distance": Tu alle Hoffnung ab!


Der preisgekrönte Dokumentarfilm "The Long Distance", der am 2. November im Nachtprogramm des ZDF ausgestrahlt wurde, nimmt das internationale Marathongeschäft ins Visier, ohne in die systemstabilisierenden Ablenkungsdebatten der Dopingskandalisierung zu verfallen, wie sie etwa die ARD im Zusammenspiel mit der von Sportwirtschaft und internationalen Regierungen gesponserten WADA (Welt-Anti-Dopingagentur) veranstalten. Der junge Filmregisseur und Autor Daniel Andreas Sager läßt die Protagonisten der Läuferszenerie für sich selber sprechen, was schon eindrücklich genug ist, um eine Ahnung davon zu bekommen, welchen Abhängigkeitsmechanismen und Ausbeutungsverhältnissen ostafrikanische Lauftalente unweigerlich ausgesetzt sind, wenn sie von Sportmanagern für Laufevents in x-beliebigen europäischen Städten mit der Aussicht auf materielle Gewinne und soziale Anerkennung rekrutiert werden. "Jedes Jahr versuchen tausende von Ostafrikanern, über den Marathonsport einen Weg aus der Armut zu finden", heißt es in der 91minütigen Dokumentation, die hochaktuell auch auf die Flüchtlingsproblematik anspielt. So weist der Regisseur darauf hin, daß für viele Kenianer der Marathonsport das sei, was für Nordafrikaner das Flüchtlingsboot ist. Die fortschreitende Globalisierung würde die menschlichen Schicksale verschiedener Kontinente miteinander verketten. Sowohl Läufer als auch Manager wollten Geld verdienen. Doch was für viele Ostafrikaner die Suche nach einem Weg aus der Armut sei, scheine für einige europäische Manager der Eifer nach Ruhm und Reichtum.

Statt die Dialektik der Gegensätze zwischen entwickelten Industriestaaten wie Deutschland und armen Ländern wie Kenia, wo fast die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag auskommen muß, konsequent fortzuführen, nimmt der Autor jedoch Zuflucht im Prinzip Hoffnung und harmonisiert die Widersprüche. So beschließt Daniel Andreas Sager seine persönlichen Anmerkungen zum brisanten Thema Läuferhandel mit dem kreuzbraven Statement: "Aber so unterschiedlich die Perspektiven dann auch sein mögen, bleibt dem Menschen im Umgang mit kleinen wie großen Nöten eines gemein: die Hoffnung." [1]

Dieses versöhnliche Credo hätte der Nachwuchsfilmer, dessen Werk 2015 mit dem "First Steps Award" prämiert wurde, nicht nötig gehabt, was die Frage aufwirft, warum es dennoch erfolgt. Kommt man auch in "Sportdeutschland", so ein bekanntes Werbelabel des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), nur ins öffentlich-rechtliche Fernsehen, wenn man den Waren- und Herrschaftscharakter des geschäftstüchtigen Sports nicht in Frage stellt?

Wie in der globalisierten Wirtschaft und Industrie spiegeln sich auch im gewerblichen Sport die Produktivitätsunterschiede der Länder wider. Athletenmanager wie Volker Wagner, der sein Geschäft schon seit 27 Jahren betreibt, gibt es nur, weil diese das Armutsgefälle zwischen reichen und armen Ländern auszunutzen wissen. Es ist seit vielen Jahren bekannt, daß die "Laufleidenschaft" kenianischer Mittel- oder LangstreckenläuferInnen nicht primär daher rührt, weil sie es in den "Beinen" oder "Genen" haben oder weil die Luft in den Höhenlagen so dünn ist, sondern weil der Laufsport in den westlichen Metropolengesellschaften eine Möglichkeit zum Geldverdienen darstellt.

Das gilt auch für die kenianischen Athleten Felix Kiprotich und Eunice Jelegat Lelei, von denen der Film erzählt. Sie leben in ihrer Heimat in ärmlichsten Verhältnissen: Felix betreibt ein bißchen Viehwirtschaft und hofft darauf, sich mit dem gewonnenen Preisgeld eine Solaranlage finanzieren zu können. Eunice, deren Tochter bei ihrer Schwester lebt, weil das Geld für einen eigenen Haushalt fehlt, will ihren Vater unterstützen und hofft ebenfalls darauf, durch Preisgelder ihr karges Leben zu verbessern. Diesen Traum teilen Tausende von LäuferInnen in Kenia, die hart für die oft einmalige Chance trainieren, von einem Manager gescoutet und nach Deutschland oder anderswo transferiert zu werden. Beispiele von erfolgreichen MarathonläuferInnen, die es zu Geld und Ansehen gebracht haben, und sei es mehrheitlich auf bescheidenem Niveau, halten eine Ausbeutungsordnung aufrecht, die wenige große Profiteure, dafür um so mehr Almosenempfänger und Verlierer produziert. Mußten die schwarzen Sklaven einst auf den Plantagen ihrer weißen Besitzer Schwerstarbeit leisten, so ist der Zwang heute nach darwinistischer Marktlogik organisiert: Niemand wird zum Laufen gezwungen; doch wer sich nicht erfolgreich die Lunge aus dem Hals hetzt oder körperliche Torturen durchleiden kann, setzt sich existenziellen Sorgen und Nöten aus.

Im "Grenzregime" des globalisierten Sports wird die befristete Zuwanderung qualifizierter Marathonmigranten nach Europa über Scouting-Systeme, Leistungsselektion und "Willkommens"-Management reguliert. Hatten einst Abeuteurer, Glückritter und Missionare den Weg für die kolonialistische Unterwerfung des Trikonts gebahnt, so geht auch der heutige Läuferhandel mit Kenia auf sportreligiöse Idealisten und Pioniere mit Geschäftssinn zurück. Der Detmolder Sportmanager Volker Wagner, einst Lehrer, der seinen Laufsport zum Beruf gemacht hat, gehört zu den alten Hasen des Marathongeschäfts. Nach früheren Erfolgen - "seine" Athleten haben 13 Weltrekorde aufgestellt und ihm stattliche Provisionen eingebracht - befindet er sich seit Jahren auf dem absteigenden Ast. Offenbar haben konkurrierende Manager seine Methode nicht nur kopiert, sondern mit mehr Geld im Hintergrund, effektiveren Netzwerken und weniger Skrupeln noch verbessert, was einen nachdenklich stimmen könnte, welche Geschäftspraktiken und ausbeutbaren Nöte der sehenswerte Dokumentarfilm, der seine Entstehung auch einigen glücklichen Zufällen und Wendungen verdankt, noch unerwähnt läßt.

Der 64jährige Wagner bietet ausgesuchten KenianerInnen die Chance, auf deutschen Laufevents Prämien zu gewinnen. Er kümmert sich um Unterkunft, Nahrung, Trainingspläne und Massagen und schießt auch das Geld für seine Hoffnungsträger vor: Etwa 800 bis 2.000 Euro für Flugtickets, Unterkunft, Startgebühren, Versicherungen, Visa und andere Auslagen. Danach wird feinsäuberlich abgerechnet. Mit dem Geld, das LäuferInnen bei Wettbewerben gewonnen haben, müssen sie zunächst ihre Schulden bei Wagner begleichen. Erst dann bekommen sie ihre erlaufenen Prämien, abzüglich 15 Prozent Managerlohn, ausgezahlt. Konnten die Athleten, die in der Regel Einjahresverträge abgeschlossen haben, bisher kostenlos in den ehemaligen Ferienbungalows von Wagner logieren, müssen sie von ihren Preisgeldern von nun an 15 Euro pro Tag fürs Wohnen abdrücken. Haben die LäuferInnen außer Spesen nichts eingebracht, macht auch der Sportmanager Verluste. Sollte ein kenianischer Athlet in Deutschland zudem Asyl beantragen, verliert Wagner die 3.000 Euro Kaution, die er seit neuestem für jeden hinterlegen muß, bei der regulären Ausreise aber zurückerhält.

Das ganze System ist auf Rendite getrimmt, beide Seiten wollen und müssen ihren Schnitt machen. Wer als LäuferIn zum ausschließlichen Kostenfaktor wird, muß entweder mehr anschaffen gehen oder schnell wieder in die Heimat zurückkehren. Nach der mehrwöchigen Knochenarbeit und dem Abzug aller Auslagen haben weder die knapp 30jährige Eunice Jelegat Lelei noch Volker Wagner die erhofften Gewinne gemacht. Unter Androhung, er würde sie die nächste Saison nicht mehr nach Europa holen, drängt der Manager die Läuferin, einen zweiten Marathonlauf innerhalb eines Monats zu bestreiten.

Eunice, die sich eigentlich ausgelaugt fühlt und zurück möchte, beißt in den sauren Apfel und quält sich in Kassel durch einen zweiten Marathon, wo sie aufgrund eines Mißgeschicks erneut Zweite wird und somit die erhoffte Siegprämie verpaßt. "Riesiges Rennen, Zeiten nicht ganz so überragend", tönt der Marathon-Chef ins Mikrofon, der die drei Erstplazierten - allesamt Kenianerinnen, die sich das Wenige auch noch gegenseitig wegnehmen - zusammengeholt hat, damit sie für die Medien und Lokalpresse gute Miene machen. Es hat auch keinen neuen Strecken- oder Weltrekord gegeben - eine wichtige Münze in der Aufmerksamkeitsökonomie der mehr als 200 Marathonrennen, die in Deutschland jedes Jahr organisiert werden. Schnelle, exotische TopläuferInnen aus Kenia oder Äthiopien sorgen für ein gutes Marathon-Ranking und ziehen zudem Teilnehmer, Zuschauer, Sponsoren und Auszeichnungen an. Später wird auf der offiziellen Website des "E.ON Kassel Marathons" unter der Überschrift "Des Läufers langer Weg ins Glück" stehen, daß der Sport "große Chancen zur Integration" biete. [2] 

Viele Filmszenen erinnern schlichtweg an Sklavenverhältnisse, nur daß die Herrenrollen und Knechtschaftsfunktionen in der körperkasteienden Sportwelt viel ausdifferenzierter und akzeptierter sind. Über die medialen Ausblendungen und leiblichen Abtötungsmechanismen in der Konkurrenz- und Fitneßgesellschaft, in der sich Volksläufe aller Distanzen und Leidensformate großer Beliebtheit erfreuen, könnte man sicherlich Bücher schreiben. Auch in den reichen Industriestaaten, die nach innen einen immensen Wettbewerbsdruck entfalten, gibt es eine Fluchtbewegung. Die vielen BürgerInnen, die gegen Abstiegsängste, Gesundheitsrisiken, Schönheitsmakel, Optimierungsdefizite oder Erlebnismängel im wahrsten Sinne des Wortes anzurennen versuchen, sprechen eine deutliche Sprache.

Am Ende bleibt Eunice Jelegat Lelei ein Hungerlohn von 187 Euro für mehrere Wochen Laufarbeit. Viele AfrikanerInnen kehren mit weniger oder sogar Schulden in ihre Heimat zurück, teilweise gibt Wagner ihnen noch ein kleines Wegegeld, damit sie vor ihren Familien und Freunden nicht vollkommen blank dastehen. Die milde Gabe stellt auch ein soziales Schmiermittel dar, um das kommerzielle Ausbeutungssystem am Laufen zu halten. Denn sollte das Geschäft wegbrechen, würden in Kenia, wo sich in bestimmten Landesteilen Ausbildungszentren und Trainingscamps mit einer entsprechenden Sozial- und Wirtschaftsstruktur etabliert haben, viele davon profitierende Existenzen in Mitleidenschaft gezogen werden. Also weiter so.

Wie so oft in der Befreiungsgeschichte ehemaliger Kolonialländer, wo sich die Menschen gegen ihre Unterdrücker erhoben haben, führten die Kultur- und Herrschaftstechniken der Weißen unter veränderten Machtverhältnissen ihr Leben fort. Die Sozialtechnik des Sports treibt armen Menschen nicht nur die Zählwerke, Konkurrenzregeln und Leistungsnormen in die Körper, sondern richtet sie auch für die ökonomische Verwertung zu. Nur so werden eine Bäuerin oder ein Kuhhirte aus Kenia für die Kernmärkte in Europa und anderswo taxierbar. "2:44 h, zweiter Platz. Wer braucht die? Kein Mensch! Mit solchen Leuten kannst du nicht auf die Bühne gehen", schwingt Natalya Wagner in der gutbürgerlichen Familie unverblümt den Rechenschieber, nachdem Marathonläuferin Eunice hinter den Erwartungen zurückblieb. Eine Szene, die Ehemann Volker vor laufender Kamera sichtlich unangenehm ist. Die resolute Hausdame spricht indessen nur das aus, was auf den internationalen Sportmärkten millionenfach durchexerziert wird: Wer nichts bringt, wird gnadenlos aussortiert.

Wie der Film zum Schluß erzählt, konnte Eunice wegen ihres geringen Verdienstes ihre Tochter nicht zu sich nehmen. Sie trat noch bei zwei Rennen in Deutschland an, aber weil sich die Zeiten nicht verbesserten, trennte sich der Manager von ihr. Seitdem ist sie nicht wieder nach Europa gekommen. Der 25jährige Felix hat es besser getroffen. Auch er wurde mehrmals Zweiter, gewann in der Saison 2015 einen Marathon in Frankreich und verdiente insgesamt 75.000 Euro. Nach einem Rennen in Seoul unterschrieb er den Vertrag eines anderen Managers und verließ Volker Wagner.

Der Dokumentation wurde vorgehalten, die Dopingproblematik ausgeklammert zu haben. Wie die Macher des Films berichteten, wollte der kenianische Leichtathletikverband mit allen Mitteln den Dreh verhindern, weil er dachte, es solle ein Film über Doping entstehen (Kenia steht derzeit unter strenger Beobachtung der WADA [3]). "Das Team wurde am Flughafen abgefangen und uns wurde mit Knast gedroht", erklärte Produzent Simon Riedl. Schließlich entzog Kenias Verband Volker Wagner auch noch die Lizenz. Sager gelang es aber, den Verbandspräsidenten zu überreden. [2]

Um es kurz zu machen: Kenia war bei der Leichtathletik-WM 2015 in Peking mit sieben Gold-, sechs Silber- und drei Bronzemedaillen erstmals in der Geschichte der Titelkämpfe die erfolgreichste Nation - was den Dopingverdacht nährt, zumal in der Vergangenheit viele LäuferInnen positiv getestet wurden und es kein mit hiesigen Standards vergleichbares Anti-Doping-Regime in Kenia gibt. Diese Kontroll- und Überwachungsfreiheiten sollen Topathleten armer Länder auch noch genommen werden. Nur der "gläserne Athlet", der Spitzenleistungen unter Generalverdacht vollbringt, rund um die Uhr überwacht wird und quasi mit einem Bein im Knast steht (siehe neues Anti-Doping-Gesetz in Deutschland), ist ein guter Athlet. Dies ist die Quintessenz aller Bestrebungen, die gegenwärtig in der investigativen Verdachtsberichterstattung, in der hohen Sportpolitik, unter westlichen Kadersportlern und in den tonangebenden Sportverbänden abgefeiert werden.

Der Dopinglegalismus ist das perfekte Instrument der "Ersten Welt", ihre materielle sowie wissenschaftlich-technologisch Vorherrschaft - manifestiert in sportlichen High-Tech-Spitzenleistungen - gegenüber minderbemittelten Ländern sicherzustellen. Um die Unterwerfung der armen Sportnationen komplett zu machen, werden Länder wie Kenia unter Druck gesetzt, einen erheblichen Teil ihrer finanziellen Mittel von der sportlichen Leistungsproduktion abzuzweigen und in die Entwicklung von Kontroll- und Überwachungsapparaten zu investieren, möglicherweise sogar unterstützt durch einen "solidarischen Hilfefonds" reicher Industrieländer. Es bedarf nicht der Rede, daß die teure Big-Brother-Technologie in der "Ersten Welt" eingekauft werden muß. Natürlich werden die Anstrengungen niemals für den Sauberkeitsstempel reichen, denn selbst in technisch und wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten, wo anlaßlose Kontrollen bereits flächendeckend durchgeführt werden und sogar während der Nachtstunden zum Pinkelappell gebeten werden kann, läuft der Argwohn ständig mit. "Tu alle Hoffnung ab" müßte das Credo des Films darum heißen.

Fußnoten:

[1] http://thelongdistance.de/images/pressemappe.pdf. 10.07.2015.

[2] http://www.kassel-marathon.de/01_website/aktuell/2015/aktuell_m_2015_10_21_m01__newsletter_2016_07.htm. 21.10.2015.

[3] Die WADA hat Kenia gedroht, daß es von den Olympischen Spielen ausgeschlossen werden könnte, sollte es nicht ernsthafter gegen Doping vorgehen.

16. November 2015


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