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KOMMENTAR/241: Keine Krähe kratzt ... (SB)


Tödliches Schweigen: Ägyptisches Militärregime angelt sich Handball-WM 2021 der Männer


Die Medien hüllen sich in Schweigen. Die Vergabe der Handball-Weltmeisterschaft der Männer 2021 an Ägypten war in Deutschland nur eine Randmeldung unter ferner liefen. Hofberichterstattung und Agenturen informierten lediglich darüber, daß der Rat des Weltverbandes IHF am 6. November auf seiner Sitzung im russischen Sotschi zum zweiten Mal Ägypten zum WM-Gastgeber erkoren hatte. Das Heimatland des IHF-Präsidenten Hassan Moustafa war bereits 1999 Gastgeber einer WM-Endrunde. Darüber hinaus erhielten Polen und Schweden die Männer-WM 2023. In beiden Abstimmungen war Ungarn als einziger Mitbewerber unterlegen. Wohl um zu demonstrieren, wie transparent es im Welthandball zugeht, postete die IHF auf YouTube ein Wahlwerbevideo, das die Gemiumsmitglieder in größter Eintracht und Selbstgefälligkeit zeigt.

Ägypten? War da was? Offenbar nicht, denn ansonsten hätten "unsere" Leitmedien ja Alarm geschlagen - wie sie es sonst zu tun pflegen, etwa wenn Sportgroßereignisse in "autoritären", "despotischen" oder "diktatorischen" Staaten stattfinden. Als im vergangenen Sommer die Europaspiele (European Games) mit rund 6.000 SportlerInnen in Baku/Aserbaidschan Premiere feierten, war die Verlegenheit noch groß. Da war von "Propagandaspielen" in einem "autoritären Regime" die Rede, von staatlicher Repression, der Verletzung der Menschenrechte und der Einschränkung der Pressefreiheit. Die rund 100 Oppositionellen, Menschenrechtler und Journalisten, die in den Gefängnissen des Landes schmorten, wie Amnesty International kritisierte, taten der Jubelveranstaltung jedoch keinen Abbruch. Die Europaspiele, auch sportintern vielerorts als vollkommen überflüssige Veranstaltung des Europäischen Olympischen Komitees (EOC) gebrandmarkt, waren politisch, vor allem aber wirtschaftlich gewollt. Geschäftsleute und Funktionäre wie Sebastian Coe, Teilhaber und Aufsichtsrat des Sportmarketing-Unternehmens CSM und seit neuestem Chef des skandalumtosten Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, machten beim Baku-Deal ihren Schnitt, die Athleten und NOKs kassierten stattliche Erfolgsprämien, und überhaupt zeigte sich Ilham Alijew sehr großzügig. Der aserbaidschanische Staatschef und NOK-Präsident kam für die Unterkunft und einen Großteil der Reisekosten aller Teilnehmenden auf - am Ende waren die Sportfunktionäre glücklich, wie "professionell" alles in Baku organisiert war.

Nach der umstrittenen Handball-WM 2015 in Katar, wo die Zunft der Ballwerfer eindrücklich Zeugnis davon ablegte, wie käuflich ihre Funktionäre, Spieler, Journalisten und Fans sind [1], nun also Ägypten. Menschenrechtsverletzungen in Baku oder Baustellentote in Katar bargen noch ein gewisses Erregungspotential in der Medienöffentlichkeit. Doch Ägypten? Ist das nicht der "Stabilitätsanker" des Westens im Kampf gegen islamistischen Terrorismus, wie hiesige PolitikerInnen zu konzedieren pflegen?

Von wegen! Gegenüber dem, was in Ägypten an Polizeiwillkür, Folter und Unterdrückung abläuft, ist Aserbaidschan das reinste Vorzeigeland für demokratische Verhältnisse. Und dennoch herrscht in den Sportmedien absolute Funkstille. Ist das Vergessen wirklich so groß?

Schon 1999, als Ägypten erstmals die Handball-WM austrug, stellte das Land einen Rekord auf: Niemals zuvor in der Geschichte des Handballs hatte es bei Welttitelkämpfen eine solch massive Präsenz von Sicherheitskräften gegeben. Wo man auch hinschaute, Polizei, Militär oder Geheimdienstkräfte säumten sämtliche Straßen, Hotels und WM-Schauplätze. Rund 100.000 Ordnungshüter jedweder Gattung bot das ägyptische Regime für die erste WM in einer olympischen Mannschaftssportart auf afrikanischem Boden auf. Gipfelpunkt war das WM-Finale in Kairo, wo sich der damalige Staatspräsident Hosni Mubarak angesagt hatte. Im Innenraum der riesigen Main Hall waren aus Sicherheitsgründen plötzlich sämtliche elektronischen Medien ausgeschlossen worden. In der Halle herrschte totales Handy-Verbot, die Pressetribüne war gesperrt, die Journalisten und Berichterstatter aus aller Welt in der Arbeitsmöglichkeit gehindert. Erst unmittelbar vor dem Anpfiff des Finales wurden Presse, Funk und Fernsehen wieder zugelassen. Alles für den großen Auftritt von Hosni Mubarak, wie Journalisten damals zürnten, ohne sich wirklich den Mund mit Kritik an den Polizeistaatsverhältnissen in Ägypten zu verbrennen.

Und heute? Der mit eiserner Hand regierende Mubarak, in dessen Verliesen zahllose Menschen brutal gefoltert, mißhandelt und vergewaltigt wurden, während sich Sportfunktionäre, Spieler und Medienvertreter in den Sportarenen "auf ihren Job konzentrierten", ist inzwischen Geschichte. Er trat 2011 zurück, nachdem etwa 850 Demonstranten im Zuge des länderübergreifenden "Arabischen Frühlings" auf dem Tahrirplatz massakriert wurden. Der neue Gewährsmann Europas, der USA und sicherlich auch Israels heißt Abdel Fattah al-Sisi. Er war bis Juli 2013 Oberbefehlshaber der ägyptischen Streitkräfte und fungiert seit seinem Putsch gegen den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi als dessen Nachfolger. Al-Sisi sorgt dafür, daß ein unter den historisch besonderen Bedingungen als demokratisch legitimierte Ablösung geltender politischer Islam, wie ihn die Muslimbrüder repräsentieren, mit allen Mitteln unterdrückt wird.

"Wer in Ägypten überhaupt noch über Politik redet, tut das sehr leise, um nicht im Gefängnis zu landen. Dort wird wieder gefoltert wie unter Mubarak und vor Gericht gibt es Todesurteile am Fließband", schrieb Jörg Armbruster, langjähriger ARD-Korrespondent für den Nahen Osten, im Februar dieses Jahres. [2] Regimekritiker, Oppositionelle oder Islamisten der Muslimbruderschaft, die zu einer Terrororganisationen erklärt wurde, werden seither zu Tausenden verfolgt, unter fadenscheinigsten Vorwänden zu langen Gefängnisstrafen verurteilt oder um die Ecke gebracht.

Im August hat Al-Sisi ein drakonisches "Anti-Terror-Gesetz" in Kraft gesetzt, das den Präsidenten mit ähnlichen Vollmachten ausstattet wie Mubarak während seiner 30jährigen Alleinherrschaft. "De facto ist das nichts anderes als ein Freibrief für Militär, Polizei, Geheimdienste, willkürlich gegen alles vorzugehen, was diesem Staat und demjenigen, der ihn führt, nämlich Sisi, zuwiderläuft", berichtete Martin Durm, viele Jahre als Korrespondent in Kairo tätig, kürzlich im Deutschlandfunk. "Es gibt mittlerweile Sondergerichte für Terrorverdächtige, es gibt ein striktes Versammlungsverbot, es gibt eine scharfe Kontrolle der Medien, unter der auch ausländische Korrespondenten zu leiden haben." [3]

Journalisten, die in ihren Berichten von der offiziellen Darstellung eines terroristischen Angriffs abweichen, werden mit einer Strafe von 30.000 bis 57.000 Euro bedroht. Die Rechte von beschuldigten Personen wurden durch das neue Anti-Terror-Gesetz so stark eingeschränkt, daß sie praktisch nicht mehr existieren.

Berichte von Menschenrechtsorganisationen oder kritischen Medienvertretern über die blutige Präsidialdiktatur in Ägypten dürften der internationalen "Handball-Familie" bekannt sein, sofern sie sich nicht nur aus Tourismus-Katalogen oder Sportzeitungen über das Weltgeschehen informiert. Dennoch hat es keinen lauten Proteststurm gegeben, als die WM an den Nil vergeben wurde. Der Deutsche Handballbund (DHB), der die Titelkämpfe der Frauen 2017 an Land gezogen hat und zudem mit Dänemark die Männer-WM 2019 organisieren will, duckt sich weg, um keinen Ärger mit dem Weltverband des zwielichtigen Ägypters Hassan Moustafa heraufzubeschwören und die eigenen Events nicht zu gefährden. Es steht zu vermuten, daß in den Hinterzimmern weitreichende Absprachen unter den Verantwortlichen in Deutschland und anderswo getroffen wurden. Die WM-Wildcards, welche der Weltverband dem DHB spendierte ("Lex Deutschland"), obwohl sich weder dessen Männer- noch Frauennationalmannschaft sportlich für die Titelkämpfe qualifizieren konnten, scheinen sich ausgezahlt zu haben: Der Handballbund, der (aus Marketinggründen) die Klaviatur der hohen Werte im Sport spielt, macht sich um sein Schweigegeld verdient und läßt auf Ägypten als WM-Gastgeber nichts kommen.

Der deutsche Handball hat offenbar von seinem "großen Bruder" Fußball gelernt: Als die über Leichen gehende Militärdiktatur in Argentinien die Fußball-WM 1978 veranstaltete, zogen es die Funktionäre, Spieler und Unterhaltungsmedien aus Opportunitätsgründen vor, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das Endspielstadion in Buenos Aires lag nur ein paar hundert Meter entfernt vom größten Geheimgefängnis des Landes, in dem auch während der Titelkämpfe gefoltert wurde. Es ist nicht bekannt, wie weit die über 20.000 Zuschauer fassende Main Hall in Kairo, wo während der Handball-WM 2021 kräftig gefeiert werden soll, vom nächsten Hinrichtungsplatz des ägyptischen Militärregimes entfernt liegt ...

Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek224.html
KOMMENTAR/224: Gleichschritt der Nutznießer ... (SB)

[2] http://www.vorwaerts.de/artikel/repressionen-aegypten-schlimmer-mubarak. 24.02.2015.

[3] http://www.deutschlandfunk.de/religion-in-aegypten-der-versuch-einer-religioesen-reform.886.de.html?dram:article_id=338414. 01.12.2015.

4. Dezember 2015


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