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KOMMENTAR/252: Nicht für Verlierer ... (SB)


Hymnenterror: US-Patrioten gehen voran, "Sportdeutschland" folgt nach


Normalerweise sind Spitzen- oder ProfisportlerInnen "Vorbilder" für disziplinierte Körperschinderei, öffentliche Vermarktung und staatstragenden Konformismus. Wenn sich einige Protagonisten zu umstrittenen oder brisanten politischen Themen äußern, dann höchstens im privaten Kreis, hinter vorgehaltener Hand oder mit beredtem Schweigen. "Du sollst nicht denken, sondern gut spielen" und ähnliche Sprüche, wie man sie von erfolgsverpflichteten Trainern kennt, die sich mitunter selbst in "Menschen" und "Funktionäre" aufspalten, um in der jeweiligen Rolle ihre Meinung kundtun zu können, sind in den Leistungsregimen des Sports nach wie vor gang und gäbe, auch wenn sie heute weniger offen als früher geäußert werden.

Bisweilen gibt es aber doch vereinzelte ProfisportlerInnen, die etwas riskieren und sich über die restriktiven Vertragsklauseln, berufssportlichen Treuepflichten oder Verhaltenskodexe der Sportmonopolisten hinwegsetzen, die Sport & Business vor politisch unerwünschten Manifestationen oder Einflußnahmen schützen sollen. So hat der US-Footballstar Colin Kaepernick für großes Aufsehen und anhaltende Diskussionen gesorgt, weil er sich seit Ende August vor den Spielen seiner Mannschaft hinkniet, wenn die US-Nationalhymne gespielt wird. Der Quarterback des NFL-Teams San Francisco 49ers wollte sich mit dieser Geste gegen Rassismus im Land, gegen Ungleichbehandlung und Polizeigewalt wehren. Zuvor hatte der 28jährige Spieler Donald Trump als "offen rassistisch" bezeichnet. Der republikanische Präsidentschaftskandidat legte Kaepernick daraufhin nahe, die USA zu verlassen.

Die Aktion des dunkelhäutigen Spielers, die inzwischen von Sportlern und Sportlerinnen auch anderer Disziplinen solidarisch begleitet wird, scheint an den patriotischen Grundfesten der "America-First-Nation" zu rütteln. Colin Kaepernick wurde vorgeworfen, sich unamerikanisch verhalten und kein Respekt gegenüber "The Star-Spangled Banner" gezeigt zu haben. Wie der Deutschlandfunk treffend berichtete, werden in den USA selbst Kinder schon zum Fahnenappell gebeten. Bei jeder Sportveranstaltung, "egal ob in den riesigen Arenen im Football, Baseball, Basketball oder in der Provinz beim Junioren-Eishockey", werde an den Nationalstolz Made in USA appelliert. Niemand kann dem Ritual entrinnen: "Aufstehen, Kopfbedeckung abnehmen, still stehen, Blick Richtung Sternenbanner. Das ähnelt einem Akt der Gehirnwäsche." [1]

Kaepernick selbst ist keineswegs unpatriotisch. Dieses Land stehe für Freiheit und Gerechtigkeit für alle, sagte er, verwies aber gleichzeitig darauf, daß das derzeit nicht für alle gelte. Seine Kritik an der Polizei, die aus nichtigsten Anlässen heraus immer wieder Menschen unterschiedlicher Hautfarbe erschießt und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wird, ist von höchster Brisanz. Erst kürzlich wurde wieder ein Mann in der Stadt Charlotte im Bundesstaat North Carolina von einem Polizisten erschossen. Der Familienvater gehört zu den über 700 Menschen, die laut Medienberichten bereits in diesem Jahr Opfer von Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten wurden. In Reaktion auf die tödlichen Kugeln kam es in Charlotte zu Massenprotesten und Ausschreitungen, was die Stadt zur Verhängung des Notstandes veranlaßte, zudem wurde die Nationalgarde mobilisiert.

Kaepernick erntete für seine Haltung nicht nur jede Menge unflätiger Kommentare seitens erboster Patrioten, mitunter sogar Todesdrohungen, auch die Polizeigewerkschaft in Santa Clara, der es mißfiel, daß sich der Spieler respektlos niedergekniet hatte, während ein Marineoffizier und ein Dutzend Militärmitglieder die US-Flagge ausbreiteten, forderte seine Bestrafung. Sonst könne es passieren, drohte die Polizei in einem Brief an die Klubführung, daß sie nicht mehr im Stadion der 49ers arbeiten würde.

Aus hiesiger Sicht mag man den Kopf schütteln, welche Wellen der Hymnen-Protest in den USA schlägt. Doch auch Deutschland ist keineswegs frei von sportpatriotischen Gehirnwäscheprogrammen à la USA, zumal auch hierzulande eine Amerikanisierung des Hymnenverhaltens zu beobachten ist. Bis etwa Mitte der 80er Jahre sei es keineswegs üblich gewesen, die Hymne mitzusingen. "Das deutsche Nationalhymnensingen ist ein wahnsinnig junges Phänomen", berichtete Wolfram Eilenberger, Chefredakteur des "Philosophie-Magazins", in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Der aktive Fußballer und Inhaber einer DFB-Trainerlizenz plädierte dafür, es jedem Spieler freizustellen, ob er singt oder nicht. "Dieser Gesinnungstest, das hat wirklich etwas fast schon Terroristisches, und ich finde es unmöglich, dass man Spieler darauf abfragt." [2]

Noch vor vier Jahren hatte der frühere, inzwischen verstorbene DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU) den Bundestrainer aufgefordert, das Mitsingen der Nationalhymne zur Pflicht für Nationalspieler zu machen - notfalls mit Zwangsmaßnahmen. Das war von DFB-Offiziellen mit Rücksicht auf die Spieler mit Migrationshintergrund abgelehnt worden. Doch in Zeiten, wo konservative Kräfte immer lauter "Heimat und Patriotismus" als notwendige "Kraftquellen" nationaler Selbstvergewisserung beschwören und Symbole der anvisierten allgemeinverbindlichen Gesinnung die schwarz-rot-goldene Fahne sowie die Nationalhymne sein sollen, wie aus einem kürzlich veröffentlichten Papier von bayerischer CSU und CDU-Sachsen hervorgeht ("Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur" [3]), dürften Verhaltensauffälligkeiten, die nicht den Ornamenten des "werteorientierten Patriotismus" entsprechen, wieder stärker ins Visier geraten.

In Nationalmannschaften anderer Sportarten, wo es kaum oder gar keine Migranten gibt, ist das alles kein Thema: Dort wird wie in den USA die deutsche Nationalhymne mehr oder weniger ostentativ gesungen - Sportsoldaten tragen sogar das Bundeswehr-Logo in Form des Eisernen Kreuzes auf ihrer Kleidung. Das Mitsingen der Hymne stärke Motivation, Zusammengehörigkeitsgefühle oder den Korpsgeist, heißt es von seiten der Aktiven. Viele Athleten, die von öffentlicher Aufmerksamkeit abhängig sind, erhoffen sich gewiß auch stärkere emotionale Bindungen mit den Fans. Ein "überzeugender" oder "authentischer" Auftritt beim Hymnensingen kann auch den Werbewert einzelner Sportler oder Teams erhöhen. Applaus von der politisch schwer rechtslastigen Seite ist ohnehin sicher. Als in Rio das deutsche Männer-Hockeyteam die Hymne a capella sang, weil die Technik den Geist aufgegeben hatte, löste das in entsprechenden Internet-Blogs wahre Begeisterungsstürme aus. "Respekt!" schallte es von dort, wo ansonsten übelste Ausländerhetze betrieben wird.

Der Haß, der Colin Kaepernick in den USA insbesondere von erzpatriotischer Seite entgegenschlägt, findet in "Sportdeutschland" (DOSB-Slogan) sein Äquivalent in der Art und Weise, wie auf Christoph Harting herumgehackt wurde, als der Überraschungs-Olympiasieger in Rio beim Abspielen der Hymne zeitweilig die Arme vor der Brust verschränkte, lässig herumtänzelte und eine lebhafte Gesichtsmimik zur Schau trug. Durch die Brille des Sportinformationsdienstes (sid) gesehen, benahm sich der Bruder von Robert Harting vollkommen daneben: "Er verschränkte die Arme vor der Brust, pfiff albern vor sich hin und machte Faxen wie ein Halbstarker." [4]

Der 26jährige Diskuswerfer hatte sich noch nicht einmal politisch geäußert, sondern lediglich versucht, seine überbordenden Gefühle in einer für ihn ungewohnten Situation durch eigenwillige Bewegungen zu kompensieren. Doch das reichte schon, um den "Hymnen-Hampler" für seinen "Arroganz-Auftritt" (Bild-Zeitung) abzustrafen. Nicht nur in den sozialen Medien wurde Harting wegen seines vermeintlich respektlosen Auftritts böse angegangen, sondern auch von "Sportkameraden". "Gold im Diskus ist echt super geil!!! Aber für dieses Verhalten schäme ich mich in Deutschland vor dem TV!", schrieb der ehemalige Weitsprung-Europameister Sebastian Bayer bei Facebook. Und der frühere Kapitän der Handball-Nationalmannschaft, Pascal Hens, meinte: "Das Verhalten bei der Nationalhymne ist einfach nur peinlich und respektlos!" [5]

Auch andere Spitzenfunktionäre des deutschen Sports reagieren empfindlich, wenn sie undisziplinierte Verhaltensweisen bei ihren nationalen Aushängeschildern entdecken. Christoph Hartings sportliche Leistung wäre großartig, aber sein Verhalten bei der Siegerehrung unwürdig gewesen, tadelte der deutsche Leichtathletik-Präsident Clemens Prokop, der als besonders rigider Verfechter des repressiven Leistungssports gilt. Michael Vesper (Grüne), Chef de Mission in Rio und Vorstandsvorsitzender des DOSB, mochte Hartings Verhalten ebenfalls nicht gutheißen: "Er ist Teil unserer Mannschaft und Botschafter unseres Landes. Wenn er die Bilder anschaut, wird er das sicher einsehen." [6]

Im Disziplinarregime des nationalrepräsentativen Sports darf es keine Abweichungen geben. Ähnlich wie der Footballer Colin Kaepernick bekam auch Christoph Harting Ärger mit der Polizei. Zwar hatte sich der 2,07-m-Hüne sofort bei allen entschuldigt, die sich durch sein Verhalten auf den Schlips getreten fühlten, doch wie die "Welt am Sonntag" berichtete, hatte eine Privatperson gegen den Angehörigen der Bundespolizei Strafanzeige erstattet. Das bestätigte Jochen Maron, Leiter der Bundespolizeisportschule in Kienbaum. Auch er stünde Hartings Verhalten "sehr kritisch gegenüber". Dieser Vorfall werde in jedem Fall noch nachbereitet, erklärte Maron, der zudem ein persönliches Gespräch mit Harting über die moralische Dimension seines Auftritts ankündigte. Ob es zu einem polizeiinternen Disziplinarverfahren kommt, blieb dahingestellt.

Wenn überhaupt, dann könnte ein Strafverfahren nach Einschätzung von Christian Schmitt, Rechtsanwalt in Köln, nur nach § 90a des Strafgesetzbuches verwirklicht werden. Doch Hartings Verhalten "dürfte vielmehr als unsportliche, aber straflose Respektlosigkeit vor der Zeremonie der Siegerehrung einzustufen sein und nicht als strafbare Verunglimpfung der Nationalhymne". [7]

Schon die aggressiven Reaktionen und Vorverurteilungen insbesondere in den bürgerlich-konservativen Medien zeugen davon, wie mit Menschen umgesprungen wird, die nicht staatstragend und respektvoll genug Haltung annehmen, wenn die deutsche Nationalhymne ertönt. Nicht auszudenken, was in Deutschland los wäre, wenn ein von Polizei oder Bundeswehr unterstützter Athlet tatsächlich einmal während der Hymne seinen Protest etwa gegen tödliche Elektroschockpistoleneinsätze oder "Racial Profiling"-Methoden der Polizei zum Ausdruck bringen würde. Es hat auch noch keinen Militär- oder Zivilathleten gegeben, der gegen die Drohnen- und Kriegseinsätze der Bundeswehr seine Protestfaust erhoben oder lautstark gegen die Werbekooperationen von DOSB und Streitkräften Stellung bezogen hätte. Was würde passieren, wenn ein Handballer nicht aus voller Kehle die Nationalhymne mitsänge, sondern sich aus Scham vor der deutschen Hartz-IV-Gesetzgebung niederknien und Solidarität mit den tyrannisierten ALG-II-Beziehern demonstrieren würde? Mit welchem Karriereknick hätte ein Fußballer etwa von Bayern München zu rechnen, der die Tausenden von Baustellentoten im "Sportparadies" Katar verurteilte? Welche Medien- und Fanschelten hätte ein Topsportler zu ertragen, der ungeschminkt ausspricht, daß ein "gläserner Athlet" ein Sklave unter Doping-Generalverdacht ist, dem selbst seine Krankheiten und körperlichen Mangelerscheinungen noch zum Strick gedreht werden können?

Daß es hierzulande unvorstellbar erscheint, daß sich ein Spitzensportler während der Medaillenzeremonie bewußt antipatriotisch verhält, weil er oder sie damit ein Zeichen gegen Alltagsrassismus, Nationalchauvinismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland setzen will, wirft ein Schlaglicht darauf, welche massiven Abhängigkeitsverhältnisse und Zwangslagen im staatsrepräsentativen Sport tatsächlich vorherrschend sind, ohne daß sie beim Namen genannt werden.

Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/hymnen-protest-eine-frage-der-ehre.1346. de.html?dram:article_id=365520. 11.09.2016.

[2] http://www.deutschlandfunk.de/philosoph-wolfram-eilenberger-die-integrative-kraft-des.694.de.html?dram:article_id=355509. 30.05.2016.

[3] https://www.epenportal.de/filemanager/storage/dokumente-23802/aufruf-zu-einer-leit--und-rahmenkultur-30.09.2016.pdf. 30.09.2016.

[4] https://www.welt.de/sport/olympia/article157660853/Die-spaete-Reue-des-Christoph-Harting.html. 14.08.2016.

[5] http://www.kicker.de/news/olympia/startseite/658072/artikel_harting-erklaert-hymnen-hampelei.html. 14.08.2016

[6] http://www.spiegel.de/sport/sonst/christoph-harting-wird-fuer-faxen-bei-olympia-siegerehrung-kritisiert-a-1107581.html. 14.08.2016.

[7] http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/christoph-harting-strafanzeige-verunglimpfung-deutschland/. 05.09.2016.

2. Oktober 2016


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