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KOMMENTAR/282: Disziplinenwandel ... (SB)



Während die Medien in Deutschland quer durch alle politischen Lager teilweise hart abrechnen nach der "schwächsten Medaillenausbeute bei Olympischen Spielen seit der Wiedervereinigung" und darüber weinen, dass der bundesdeutsche Spitzensport trotz des vielen Geldes und der Leistungssportreform über "keine Medaillengaranten" mehr verfüge, scheint es aber doch einen Hoffnungsfunken in der zuchtmeisterlichen Welt des Medaillensports zu geben. Jedenfalls nach Dafürhalten der MedienvertreterInnen, die gar kein Problem damit haben, auf der einen Seite die dürftigen Medaillenerträge und mangelnde Effizienz der deutschen Spitzensportförderung zu geißeln, auf der anderen Seite aber Erfolgsgaranten wie Tennisspielerin Naomi Osaka (Japan) oder Kunstturnerin Simone Biles (USA) hochleben lassen, die sich den Medaillenerwartungen fast komplett entwunden haben, zumindest für eine Zeitlang. Diese erfolgsverwöhnten Stars, die in diesem Geschäft weitaus besser verdienen als der Durchschnitt und sich folglich auch mehr Eigenwilligkeit leisten können, hatten etwas getan, was weniger prominenten Sportlerinnen und Sportlern in der Regel übel angekreidet, sprich mit staatlichem Förder-, privaten Sponsoren- oder sozialem Sympathieentzug vergolten wird, ohne dass sie deswegen in Schutz genommen würden: Sie lieferten nicht und reklamierten mentale Schwächen, wenn nicht gar Ärgeres.

"Mentale Probleme" kann man im humanen Hochleistungssport, wo der Körper das (verletzliche) Kapital ist, den man durchaus bis zum Gehtnichtmehr schinden soll und darf, als Entschuldigung gerade noch anbringen. Inzwischen immer öfter, denn es ist längst kein Geheimnis mehr, dass zahlreiche Profi- und SpitzensportlerInnen an psychischen Krankheiten leiden, die zwar immer noch als Stigma oder Schwäche in der "Nur die Harten kommen in den Garten"-Branche gelten, aber nicht mehr vollständig unter der Decke der Vorbildpropaganda sportlicher Spitzenleistungen gehalten werden können. Wie Bänder- und Kreuzbandrisse, Ermüdungsbrüche oder Muskelrupturen werden nun Burnout, Depressionen, Essstörungen, Süchte, Angststörungen oder ADHS so lange therapiert, bis der immobilisierte oder blockierte Athlet wieder zu Topleistungen imstande ist. Sportmediziner und Sportpsychologen - letztere sehen sich im körperbetonten, vor allem aber bezahlkräftigen Profi- und Spitzensport immer noch nicht vollständig anerkannt und nachgefragt - ziehen gemeinsam an einem Strang. Wer dann immer noch nicht funktioniert, ist ohnehin schnell weg vom Fenster bzw. aus dem Rampenlicht der Sportmedien, die dann auch schon flugs die neuen Medaillenkandidaten und Hoffnungsträger hochleben lassen. So bleibt das Warenangebot an jungen Spitzenkräften immer frisch sortiert, ebenso wie der feucht-empathische Blick des Sportkonsumenten ungetrübt bleibt von den physischen und psychischen Verschleißerscheinungen der unterdessen ausrangierten Altstars.

Wenn sich die Leitmedien förmlich überschlagen in Lobeshymnen für Naomi Osaka oder Simone Biles, weil sie jetzt angeblich nicht nur auf ihren Körper, sondern auch auf ihren Verstand hören, dann hat die allgemeine Augenwischerei nur eine neue Stufe der Perversion erklommen.

Bevor die viermalige Grand-Slam-Gewinnerin und Titelfavoritin Naomi Osaka in der dritten Runde des olympischen Turniers die Segel strich, hatte sie mehrfach auf ihren mentalen Gesundheitszustand verwiesen. Im Juni zog sich die 23-jährige Japanerin von den French Open zurück, nachdem sie mit einer Geldstrafe belegt worden war, weil sie nicht an einer regulären Pressekonferenz nach dem Spiel teilgenommen hatte. Sie habe sich schützen wollen und verletzlich gefühlt, gab sie an. Das anschließende Turnier in Wimbledon ließ Osaka ebenfalls sausen. Später gab sie bekannt, dass sie seit ihrem US-Open-Triumph 2018 immer wieder unter Depressionen leide.

Nicht nur konservative, die Leistungsknute schwingende Sportpatrioten sind normalerweise nicht gut darauf zu sprechen, wenn TopverdienerInnen im Spitzensportgewerbe Unpässlichkeiten, mentale Schwächen oder gar psychische Krankheiten anführen ("Weicheier"). Auch invalide Sportlegenden wie Boris Becker, die später als Experten vor den Mikrofonen oder Kameras die Karriere verlängern und ihre zähnezusammenbeißenden Sportlerweisheiten verbreiten, neigen dazu, allzusehr auf ihr gesundheitliches Wohlergehen pochenden SportlerInnen mangelnde Professionalität vorzuhalten (im Mannschaftssport kommt noch "Egoismus" oder "mangelnder Teamgeist" als Vorwurf hinzu). So fragte etwa Tennisstar Becker nach dem Presseboykott von Naomi Osaka in einem Times-Interview rhetorisch: "Ist das wirklich Druck? Ist es nicht Druck, wenn du kein Essen auf dem Tisch hast? Wenn du deine Familie ernähren musst und keinen Job hast? Du bist 23, du bist gesund, du bist reich, deiner Familie geht's gut - wo ist da der verdammte Druck?" [1]

Boris Becker bräuchte eigentlich nur an sich selbst herunterzuschauen, seine künstlichen Gelenkprothesen sowie ellenlange Krankenakte vergegenwärtigen, um Antworten zu finden, wo und wie sich "der verdammte Druck" im Hochleistungssport niederschlagen kann, unabhängig davon, ob ein Athlet reich oder arm ist.

Vor genau zehn Jahren hatte es Doppelolympiasiegerin und -weltmeisterin Britta Steffen bei der Schwimm-WM in Shanghai einmal gewagt, nach ihrem Vorlauf-Debakel über die 100 Meter Freistil (Platz 16) alle weiteren Rennen abzusagen - auch die 4 x 100 m Lagenstaffel. Daraufhin ging Schwimmlegende Franziska van Almsick, die auch als TV-Expertin arbeitete und heute als stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Sporthilfe figuriert, mit ihrer Nachfolgerin hart ins Gericht: "Ich verstehe nicht, warum sie alles hinschmeißt. Ich hätte ein bisschen mehr erwartet, dass man als Frontfrau des Deutschen Schwimm-Verbandes auch Verantwortung übernimmt und im Zweifel sich die Beine herausreißt; noch mal alles gibt, um die Lagen-Staffel in die Olympischen Spiele zu bringen." Van Almsick zufolge müsse man manchmal eben auch die Arschbacken zusammenkneifen. [2]

Das "Sensibelchen" Britta Steffen hatte für ihren Leistungsabfall damals keine so einleuchtende, mehrheitlich Verständnis weckende Erklärung parat wie etwa Spitzenturnerin Simone Biles bei den Olympischen Spielen in Tokio. Die 24-jährige US-Amerikanerin berichtete in sozialen Medien von "Twisties" - so werden in ihrem Land mentale Blockaden im Turnen genannt. Wer "Twisties" hat, weiß bei den anspruchsvollen Drehsprüngen plötzlich nicht mehr, wo oben und unten ist, was die Verletzungsgefahr stark erhöht. "Mein Geist und mein Körper sind einfach nicht im Einklang", schrieb Biles, die zuletzt auch im Training gestürzt war. Die Probleme beträfen alle Wettkämpfe was wirklich nerve, so Biles. [3] Nachdem sie sich im Mannschaftswettbewerb bereits nach dem ersten Sprung zurückgezogen hatte, sagte sie auch alle weiteren Auftritte wegen mentaler Probleme ab. Nur für den Schwebebalken trat sie noch einmal an, was der höchstdekorierten Turnerin der Geschichte die Bronzemedaille einbrachte. Als Grund für ihre mentalen Probleme bei den Olympischen Spielen schloss Simone Biles in einem späteren TV-Interview auch den früheren sexuellen Missbrauch durch den Teamarzt Larry Nassar nicht aus.

Von der vierfachen Olympiasiegerin und 19-fachen Weltmeisterin wurde jedenfalls nicht verlangt, dass sie sich im Dienste der Mannschaft und der Medaillenausbeute noch einmal voll ins Zeug legt. Im Gegenteil, Ausnahmeturnerin Simone Biles erntete bis hin zum Weißen Haus Respekt, Anerkennung und eine Welle der Sympathie. Sport und Leistung seien mehr als die Summe von Medaillen, heißt es nun. "Wir sind nicht nur Unterhaltung. Wir sind Menschen", sagt Simone Biles. Auf einmal scheint die allgemeine Medaillenzählerei (die USA haben das Medaillenranking vor China und Japan gewonnen!) wie weggeblasen. Der Deutschlandfunk preist Biles als Vorbild "für das wachsende Selbstbewusstsein von Top-Athleten im kommerziellen Sport" und beendet einen Beitrag mit folgenden Worten:

"Sie gewann Bronze und kann sich nun etwas entspannter auf die lange geplante, landesweite mehrmonatige Gold-over-America-Tour einstimmen, die im September beginnt. Vermutlich wird sie ihr Publikum überall im Land mit Ovationen empfangen. Denn Biles hat bei den Spielen von Tokio die Existenz der erfolgreichen Sportlerin neu definiert. Sie ist eine Frau. Keine Mensch-Maschine." [4]

Heilige Einfalt! Die Mensch-Maschine, die der Unterhaltung dient und nach Gold strebt, ist keineswegs aus dem Takt gekommen, nur weil ein Superstar sich bei Olympia einmal eine Auszeit genommen hat. "Ich glaube, dass in jedem von uns GOLD steckt, und es ist an der Zeit, dieses GOLD zum Leuchten zu bringen", wird Simone Biles auf der Internetseite von Gold-over-America-Tour zitiert. [5] Das Showspektakel, an dem Biles und ein All-Star-Team von Turnerinnen teilnehmen, um die nächste Generation von Sportlerinnen zu inspirieren, gastiert zwischen dem 21. September und 7. November in 35 Städten der USA. Nur wenige Tage Erholung liegen zwischen den Tournee-Auftritten, die zwar nicht unter Wettkampfbedingungen stattfinden, den Kunstturnerinnen aber trotzdem hochkarätige Turnübungen abverlangen. Die GOLD-Show geht weiter, schließlich will das Publikum etwas sehen für sein Geld. Mentale Schwächen, Defekte, Blockaden und weiteres werden jetzt vielleicht nur häufiger als früher therapiert und eingepreist. Am grundsätzlichen Leistungsdruck hat sich nichts geändert.

Fußnoten:

[1] https://www.thetimes.co.uk/article/boris-becker-naomi-osaka-shes-healthy-shes-wealthy-so-where-is-the-pressure-vlfjsv78q. 26.06.2021.

[2] https://www.sueddeutsche.de/sport/schwimm-wm-in-shanghai-das-grosse-raetsel-um-britta-steffen-1.1125562-0#seite-2. 28.07.2011.

[3] https://olympics.com/de/news/erster-und-zweiter-platz-fur-die-volksrepublik-china-am-schwebebalken-guan-chenc. 03.08.2021.

[4] https://www.deutschlandfunk.de/us-turnerin-simone-biles-wenn-die-mensch-maschine-aus-dem.1346.de.html?dram:article_id=501430. Von Jürgen Kalwa. 08.08.2021.

[5] https://www.goldoveramericatour.com/goat/about.html

16. August 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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