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KOMMENTAR/291: Umweltlügen ... (SB)



"Ja, ich bin ein Heuchler bei dem, was ich beruflich mache ...." [1]
(Sebastian Vettel, Formel-1-Rennfahrer)

"Ich habe im Laufe der Jahre schon viel Heuchelei erlebt, aber das hier ist der Gipfel. Ein Rennfahrer, der von Aston Martin gesponsert und von Saudi Aramco finanziert wird, beschwert sich über Teersandabbau", empörte sich Sonya Savage, die Energieministerin der kanadischen Provinz Alberta, via Twitter [2], nachdem der frühere Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel den umweltschädlichen Teersandabbau in Kanada kritisiert hatte. "Es ist ein Horror für die Natur. Das sollte nicht erlaubt sein", hatte Vettel bei der Pressekonferenz vor dem Großen Preis von Kanada erklärt. Bei seiner Ankunft im Fahrerlager von Montreal trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift "Stoppt den Teersandabbau - Kanadas Klimaverbrechen", eine entsprechende Botschaft zierte außerdem seinen Helm.

Wie es scheint, haben sich hier zwei professionelle HeuchlerInnen einen Wettkampf um den Gipfel der Heuchelei geliefert. Das extrem umwelt- und klimaschädliche Rohöl aus kanadischen Teersanden gilt als das schmutzigste Öl der Welt. Es soll mindestens dreimal so schädlich wie herkömmliches Erdöl sein. Laut Greenpeace befindet sich die Ölsandschicht in etwa 30 Metern Tiefe. Um dahin zu gelangen, mussten und müssen in Kanada Urwälder gerodet und der Mutterboden abgetragen werden. Erst dann kann das Gemisch aus Sand, Lehm und teerähnlichem Öl aus dem Boden gehoben werden. Das Umweltinstitut München e.V. beschreibt die dabei auftretenden Schäden so:

"Täglich werden in der kanadischen Provinz Alberta rund 900 Millionen Liter Teersand-Öl gefördert. Das entspricht ca. 5,5 Millionen Barrel pro Tag. Für die Produktion von einem Liter Öl werden hier 4,5 Liter Wasser verbraucht und sechs Liter Giftschlamm produziert. Das summiert sich auf über vier Milliarden Liter verbrauchtes Wasser und weit über fünf Milliarden Liter Giftschlamm pro Tag. Bereits eine Fläche so groß wie England, Nordirland und Wales wurden so vergiftet. Wilde Tiere an Land und unter Wasser leiden unter Tumoren. Auch Menschen bleiben nicht verschont. Die Krebsrate ist im Teersand-Gebiet 20 Prozent höher als im Rest des Landes." [3]

Statt den Schäden für Mensch und Natur ungeschminkt ins Auge zu blicken, griff auch Albertas Energieministerin Sonya Savage auf das Mittel der Schönfärberei und der Polemik zurück: "Saudi Aramco ist der grösste Ölförderer der Welt und angeblich der grösste Produzent von Karbon-Emissionen seit 1965. Anstatt die Teersand-Industrie zu verteufeln, die sich auf dem Weg zu einer Netto-Nullbilanz befindet, sollten die Leute lieber mal auf ihren CO2-Fussabdruck achten. Vielleicht mit Tretautos für die Formel 1?"

Trotz der anwachsenden Bedrohungen durch Treibhausgasemissionen, Erderwärmung und Klimawandel hat die wirtschaftsfreundliche Regierung Kanadas in den vergangenen Jahrzehnten kaum etwas unversucht gelassen, um die Proteste und den erheblichen Widerstand gegen den umweltschädlichen Teersandabbau, insbesondere von den "Native Americans", zum Schweigen zu bringen. Zeitweise wurde sogar versucht, ein "Anti-Terrorism Act 2015" (C-51) durch das Parlament zu peitschen, mit dem auch Proteste gegen den Bau von kritischen Infrastruktureinrichtungen wie zum Beispiel Pipelines, Raffinerien oder Erdölverladestationen unterbunden werden sollten. Sitzblockaden, Straßensperren, Streiks oder andere Formen des zivilen Ungehorsams in Verbindung mit kritischer Infrastruktur hätten auf diese Weise als "terroristische" Straftat eingestuft werden können. Nur aufgrund entschiedener Proteste von Bürgerrechtlern, Wissenschaftlern und aus der Bevölkerung konnte das Anti-Terror-Gesetz noch verhindert werden.

Doch die Regierungs- und Industrielobby ist stark und verfügt, auch im internationalen Zusammenhang, über immense politische, wirtschaftliche und judikative Ressourcen, um sowohl den zivilen Widerstand gegen Teersandabbau als auch ökonomische "Handelshemmnisse" aus dem Weg zu räumen. Schon Jahre vor dem Stellvertreterkrieg von Russland und der USA/NATO in der Ukraine hatte die EU versucht, ihre Abhängigkeit von Öl-Importen aus Russland zu verringern und mit Kanada, das in Konkurrenz zum ebenfalls umweltschädlichen Fracking-Öl aus den USA steht, entsprechende Abkommen zu schließen. Das EU-Freihandelsabkommen CETA, das den Weg für Öl aus Teersand auf den hiesigen Markt frei machen könnte, sollte dabei eine Schlüsselstellung einnehmen. Der umstrittene Vertrag, der u.a. den Investoren und Konzernen schier unglaubliche Vorrechte einräumt, ist noch nicht von allen Mitgliedsländern der EU ratifiziert worden, auch von Deutschland nicht. Zudem sind Verfassungsbeschwerden gegen die als undemokratisch kritisierten Freihandels- und Investitionsschutzverträge der EU anhängig. Trotz der massiven Kritik wird CETA schon seit 2017 "vorläufig angewendet", was bedeutet, das Teile des Vertrages bis auf Weiteres umgesetzt werden können. Das betrifft auch den steigenden Absatz von Teersand-Öl nach Europa, was wiederum die Klimaschutzziele der EU konterkariert. Falls nicht umgehend der Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe vollzogen wird, kann das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens, die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu halten, kaum noch erreicht werden.

Im vergangenen Jahr hatten Verbraucherschutzorganisationen wie Foodwatch oder der Verein Mehr Demokratie e.V. noch ihre Besorgnis darüber ausgedrückt, dass insbesondere die Grünen, schon weil sie Teile der vorläufigen Anwendung von CETA tolerierten, von ihrem klaren Nein immer mehr abrücken könnten. Der heutige Wirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock (beide Grüne) hatten in der Vergangenheit stets betont, dass durch CETA wichtige Standards im Umwelt-, Verbraucher-, Sozial-, und Datenschutz für die Interessen von Großkonzernen nicht aufs Spiel gesetzt werden dürften.

Doch spätestens seit dem Ukraine-Krieg werden mit Hilfe der Superlegitimation "Zeitenwende" viele einst heilige Vorsätze dem Wirtschafts- und Sanktionskrieg gegen Russland geopfert. Um sich aus der Abhängigkeit von russischen Gas- und Ölexporten zu lösen, scheint der Regierungskoalition, die auf einen Siegfrieden mit Russland setzt, den Ukraine-Krieg mit immer mehr Waffenlieferungen womöglich bis zum atomaren GAU anheizt, Friedenslösungen auf dem Verhandlungswege verunmöglicht und die hiesige Bevölkerung auf kriegsbedingte Engpässe einstellt, fast jedes Mittel recht. So erwägt die Berliner Ampelkoalition die Nutzung fossiler Kraftstoffe auszuweiten oder zumindest so zu modifizieren, dass der Treibhausgasausstoß erhöht würde. Die FDP hat inzwischen die Aufhebung des Fracking-Verbots ins Gespräch gebracht, um die inländische Gasförderung auszudehnen. Um die Gasspeicher zu füllen, kündigte Wirtschaftsminister Habeck den verstärkten Einsatz von Kohlekraftwerken an - natürlich mit Bauchschmerzen, denn die Kohleverstromung würde auch eine Zunahme der Treibhausgasemissionen bedeuten.

Nicht zu vergessen die Importterminals in Brunsbüttel und Wilhelmshaven, die mit großem Aufwand errichtet werden. "Was ist bloß mit Robert Habeck los? Erst LNG-Terminals, dann mehr Ölbohrungen im Wattenmeer und jetzt auch noch CCS: Es scheint kein energie- und klimapolitisches Tabu zu geben, das der grüne Minister nicht auf den Prüfstand stellt", fragte bereits der schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete Christian Dirschauer (SSW), nachdem Habeck kundgetan hatte, mittels der sogenannten CCS-Technologie Kohlendioxid (CO2) unter dem Nordseeboden zu speichern, was vielen Experten als "tickende Zeitbombe" gilt. [4] Derweil fordern Union und FDP längere Laufzeiten für deutsche Atomkraftwerke und werfen der sich zierenden Bundesregierung "fachlichen Blödsinn" vor.

Wie die Zeitung Die Welt berichtete, prüfe die Bundesnetzagentur bereits, ob Vermieter zur Absenkung der Mindesttemperatur in Wohngebäuden verpflichtet werden könnten. [5] Die den armen Menschen auf den Kopf spuckende Losung von Ex-Bundespräsident Joachim Gauck, wir könnten auch einmal für den Frieden frieren, welche sich längst als Aufruf zum "Frieren für den Krieg" entpuppt hat, scheint keineswegs mehr an den Haaren herbeigezogen. Längst verweisen die maximalen Wirtschaftssanktionen gegen "den bösen Putin" auf ihre ideologischen Urheber zurück, die eine Heuchelei nach der nächsten vom Stapel lassen. Die vermeintlich sauberen "Freiheitsenergien", um deren umweltschonende Verwirklichung es langfristig bei der vermeintlich wertegeleiteten Außen- und Energiepolitik der Bundesregierung gehen soll, erweisen sich allzu oft als schmutzige Deals. Könnte man sonst klimaschädliches Gas aus den USA importieren oder bei diktatorischen Herrscherhäusern wie Katar (Gas) und den Arabischen Emiraten ("grüner Wasserstoff"), an deren Palastwänden das Blut vieler Regionalkriege und Umweltdesaster klebt, um Energienachschub für die europäischen Wohlstandsländer betteln? Wegen der hohen Nachfrage aus Europa sollen möglicherweise auch an der Atlantikküste Kanadas Terminals für das Verschiffen von Flüssigerdgas entstehen, obwohl die kanadische Bundesregierung und die der Provinz Québec das Vorhaben aus Sorge um Klima und Umwelt erst vor kurzem abgelehnt haben, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. [6] Der Abnutzungskrieg der EU, die mit immer schärferen Sanktionen gegen Russland ins Feld zieht, ohne dass diese überhaupt die propagierten Wirkungen zeigen, scheint den Resteabbrand im fossilen Kapitalismus regelrecht zu beflügeln.

So sehr sich Sebastian Vettel auch als Zielscheibe für den Vorwurf der Heuchelei empfiehlt, wenn er etwa die Frage einer BBC-Moderatorin, ob er als Fahrer der Formel 1, "einer der am meisten Benzin verschwendenden Sportarten", nicht ein Heuchler sei, bejaht - er befindet sich an der Greenwashing-Front in guter Gesellschaft. Vettel ist dem Polit-Entertainment in Berlin näher, als er vermutlich glaubt, wenn er um Verständnis für seine Lage wirbt. "Auf der anderen Seite unterhalten wir die Leute auch", entschuldigte sich der Rennfahrer. "Während der Corona-Pandemie waren wir eine der ersten Sportarten, die wieder losgelegt haben. Als allen der Kopf explodiert ist, gab es wieder Formel-1-Rennen im Fernsehen." [7]

Um die Bevölkerung in Deutschland an Inflation, explodierende Energiekosten, verschärfte Umwelt- und Gesundheitsauflagen, die fast sichere Verfehlung der hehren Klimaziele und die allgemeine Militarisierung der Gesellschaft zu Lasten sozialer Mindeststandards zu gewöhnen, sind ökobewusste Renn-Veranstaltungen, die die Widerspruchsregulation zum Unterhaltungsformat erheben, geradezu unerlässlich.

Fußnoten:

[1] https://twitter.com/racefansdotnet/status/1538561746884911104. 19.06.2022.

[2] https://twitter.com/sonyasavage?lang=de. 17.06.2022.

[3] http://www.umweltinstitut.org/aktuelle-meldungen/meldungen/2021/klima/das-schmutzigste-geschaeft-der-welt.html. 30.09.2021.

[4] https://www.heise.de/tp/news/Wirtschaftsminister-Habeck-Gefaehrliche-Experimente-mit-Kohlendioxid-7132142.html. 05.06.2022.

[5] https://www.welt.de/wirtschaft/article239542981/Gas-Bundesnetzagentur-warnt-vor-grossen-Problemen-im-Winter.html. 24.06.2022.

[6] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/gnl-quebec-eu-lng-kanada-illich-1.5567932. 18.04.2022.

[7] https://www.youtube.com/watch?v=vsU3uxjnyWY. Question Time - 12th May 2022 - Full Episode with Sebastian Vettel


27. Juni 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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