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TIERHALTUNG/522: Schluss mit der Ferkelquälerei (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN, Ausgabe 04/2010
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Schluss mit der Ferkelquälerei
Jetzt muss der Handel handeln!

Von Stefan Johnigk


Es besteht Einigkeit in Deutschland: Die betäubungslose Ferkelkastration ist Tierquälerei und muss so schnell wie möglich abgeschafft werden.


So sahen es auch die über 200 Teilnehmer aus Landwirtschaft, Lebensmittelbranche, Verbraucherschutz, Tierschutz und Politik, die sich am 11.11.2010 auf Einladung der QS Qualität und Sicherheit GmbH und des Bundeslandwirtschaftsministeriums in Berlin über den Entwicklungsstand beim Verzicht auf die Ferkelkastration informierten. Eine große Mehrheit der Beteiligten bevorzugt die Mast unkastrierter männlicher Schweine (Jungebermast), wie PROVIEH sie fordert. Nicht einig ist man sich nur über den Zeitplan, ab wann auf das schmerzhafte Kastrieren endlich verzichtet werden soll. Vor allem die großen Handelsketten winden sich noch in Ausflüchten, geplagt von diffusen Ängsten vor der Reaktion der Verbraucher auf mögliche Geruchsauffälligkeiten beim Schweinefleisch und vor medialen Diffamierungsversuchen durch Wettbewerber. Dabei verdrängen sie eines: Rund 95 Prozent ihrer Kunden wissen noch überhaupt nichts über die Ferkelkastration und ihre Qualen. Werden diese damit konfrontiert, reagieren sie durchweg entsetzt und mit Abscheu. Das bestätigen nicht nur die Reaktionen auf die Kampagnen von PROVIEH und anderen Tierschutzverbänden. Selbst Unternehmen aus der Fleischwirtschaft kommen in eigenen Marktuntersuchungen zu diesem Ergebnis. Was also wiegt schwerer für die Handelsketten: Das mögliche Risiko, einige Schweinefleischkunden zu verlieren, weil Tierfleisch manchmal nach Tier riechen kann? Oder die offensichtliche Gefahr, durch ihr Zaudern die Kastration von Millionen weiterer Ferkel in Kauf zu nehmen und so bei allen Kunden in den Ruch der fortgesetzten Beihilfe zur Tierquälerei zu kommen?

Die übertriebene Angst vor Geruchsauffälligkeiten kann durch Wissen aufgelöst werden. Göttinger Wissenschaftler belegten im Doppelblindversuch, dass deutsche Verbraucher keinen signifikanten Unterschied zwischen dem Fleisch von Kastraten und von Jungebern wahrnehmen. Norwegische Forscher zeigten, dass die in Deutschland vor 20 Jahren willkürlich festgelegten Grenzwerte für Androstenon, einem Bestandteil des "Ebergeruchs", viel niedriger angesetzt sind als es der menschlichen Wahrnehmung entspräche. In Haushaltsverkostungen wurden selbst deutlich höhere Androstenonwerte von den Kunden akzeptiert. Und in jüngsten Praxistests in der Schweiz bevorzugten die Testesser sogar Salami aus unkastrierter Mast gegenüber Kastratenwurst.


PROVIEH bittet zu Tisch

Unter dem Motto "Echte Kerle statt Kastraten" lud PROVIEH im Oktober 2010 zum Presseessen ins Hamburger Szenerestaurant "Gastraum 4 Experiment" auf St. Pauli ein. Über 20 interessierte Journalisten, Vertreter aus Fleischindustrie, Lebensmittelhandel, Bauernverband, Slow-Food und von Greenpeace folgten der Einladung. Nach einer launigen Vorstellung der PROVIEH-Kampagne mit "Kastratenburger"-Karten, Mc-Donalds-Radiospot und dem vor allem bei Männern beliebten Kurzfilm "Kastratenfleisch" (zu sehen auch auf www.provieh.de) nahm die illustre Runde in guter Stimmung an einer langen, schön geschmückten Tafel Platz.

Für die Eberfleischverkostung hätte man kein besseres Restaurant finden können. Vor fünf Jahren hatten vier junge Köche, allesamt in der gehobenen Gastronomie ausgebildet, die weißen Kochjacken an den Nagel gehängt und bewirten seitdem ihre Gäste mit wilder, unkonventioneller und kreativer Küche. Das kleine Restaurant auf St. Pauli ist schnell ein kulinarischer Geheimtipp geworden. Qualität ist oberstes Gebot. Das Fleisch kommt aus artgerechter Tierhaltung von befreundeten Bauern und wenn es sein muss, sind die Köche auch bei der schonenden Hausschlachtung vor Ort dabei. Für das Presseessen machten die Küchenchefs eine Ausnahme. Das Eberfleisch stammt aus konventioneller Haltung. Die Erzeugergemeinschaft Böseler Goldschmaus sammelt seit zwei Jahren gute Erfahrungen mit der Ebermast, motiviert durch die Kampagne von PROVIEH. Sie lieferte das Fleisch für dieses Event.

Zubereitet werden Schnitzel, Schulter und Kotelett von "echten Kerlen", also unkastrierten männlichen Schweinen. Das Fleisch hatte zuvor die obligatorische Geruchsprobe im Schlachthof durchlaufen. Sowohl im rohen als auch im gegarten Zustand darf es nun begutachtet werden. Was die Gäste noch nicht wissen: Es befindet sich auch geruchsauffälliges Fleisch darunter, das gar nicht in den Frischfleischverkauf käme. Wird es jemand schmecken? Das Vorurteil, Eberfleisch habe stets einen strengen Beigeschmack, ist tief in den Köpfen verankert. Frauen sollen sensibler darauf reagieren. Doch von den Gästen - zur Hälfte sitzen Frauen am Tisch - erkennt nur ein Mann das auffällige Fleisch. Er ist selbst Schweinebauer und kennt den Geruch. Schmecken tut es ihm gut, wie allen Gästen. Und was sagen die Köche zum Experiment? Wer Tiere essen will, soll diese auch als Ganzes wertschätzen, selbst wenn es mal aus der Pfanne riecht, so ihre einhellige Meinung. Ganz besonders starke Stinker, die selbst für die Wurst nicht geeignet sind, müssen zurzeit in Deutschland vernichtet werden. Das kommt zwar nur selten vor, ist aber anrüchig, denn das Fleisch dieser Tiere ist keinesfalls gesundheitlich bedenklicher als Wildschweinfleisch, wo ein natürlicher Tiergeruch selbstverständlich in Kauf genommen wird.


Die Nase zählt

Das Fraunhofer Institut hat einen sensorischen Schnelltest auf Ebergeruch bereits weit entwickelt. Die praktische Einführung dieser "elektronischen Nase" wird sich allerdings verzögern, aus biologischen, nicht aus technischen Gründen. Das Fett von Schweinen ist unterschiedlich weich, je nach Fütterung. Das ist hinderlich bei der Analyse. Finden die Forscher einen Gewebetyp im Schweinekörper, der weniger stark in seiner Zusammensetzung schwankt, kann die hochsensible Technik im Schlachthof zum Einsatz kommen. Doch bis dahin kann mit "Volldampf voraus auf die Ebermast" umgestellt werden, so ein Vertreter der Fleischerzeuger. Denn am heimischen Herd der Kunden steht kein Sensor, sondern ein Mensch mit einer menschlichen Nase. Wie bei der Qualitätssicherung von Kaffee oder Tee bewerten schon heute besondere "Geruchspanels" die sensorische Qualität von Jungeberfleisch. Diese Experten haben einen guten Riecher für Geruchsauffälligkeiten und sortieren aus, was nicht als Frischfleisch verkauft werden kann. Selbst wenn die Schweinebauern statt der Jungebermast die biochemische Kastration mit dem Präparat "Improvac" des Pharmariesen Pfizer bevorzugen sollten, wäre so ein Expertenteam am Schlachthof unverzichtbar, um mögliche "Impfversager" auf Geruch zu testen. Dann kann man auch gleich Jungeber mästen.

In nur einem einzigen Mastgang ist dreimal genug Zeit für die Ausbildung von "Geruchspanels" für die Schlachthöfe, wo solche noch fehlen. Sobald der deutsche Lebensmittelhandel sich klar bekennt, Jungeberfleisch anzunehmen, können etliche Bauern umgehend auf die Kastration verzichten. Die Zeit ist reif zum Handeln.


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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN, Ausgabe 04/2010, S. 26-26
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung
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Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Tel.: 0431/2 48 28-0, Fax: 0431/2 48 28-29
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. April 2011