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TIERHALTUNG/595: Streitpunkt Puteneckwerte (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

KAMPAGNE
Streitpunkt Puteneckwerte

Von Stefan Johnigk



Wie darf man Puten halten? Ginge es nach den Vorstellungen von PROVIEH, dann müssten die großen Vögel alle angeborenen Verhaltensweisen voll und ganz ausleben können, also in sozialen Gruppen mit viel Bewegung und artgerechter Fütterung. Sie dürften nicht länger verstümmelt oder auf qualvoll großen Brustfleischansatz gezüchtet werden. Die Wunschliste ist lang. Die Realität aber sieht anders aus.

In Deutschland und der EU gibt es noch keine rechtsverbindlichen Vorgaben für die Putenhaltung. Was ein Putenhalter darf und was nicht, regelt der Verband Deutscher Putenerzeuger (VDP) über die "Bundeseinheitlichen Eckwerte für eine freiwillige Vereinbarung zur Haltung von Mastputen". Sie haben in der Praxis rechtsähnlichen Charakter erlangt und wurden seit März 2011 umfassend überarbeitet. Am 10. April 2013 veröffentlichte der VDP das Ergebnis. Aus Kreisen der Tierschutzbewegung regt sich massive Kritik an der Vereinbarung - sie sei nicht weitgehend genug - und an denjenigen Tierschutzorganisationen, die wie PROVIEH ihren Sachverstand in die Beratungen eingebracht haben. Die Kritik aus den eigenen Reihen ist oft fundamental und kann gerade deshalb zu Tierschutz-Problemen führen. Wie das?

Wenn die Vertreter einer industriellen Intensiv-Putenhaltung die Haltungsbedingungen für Puten neu festlegen wollen, darf eine Tierschutzorganisation wie "PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung" beratend an den Verhandlungen teilnehmen? Ja. PROVIEH muss das sogar, denn der Missbrauch von Tieren als Produktionsmittel lässt sich am wirksamsten nur an seinen Wurzeln bekämpfen. Diese Wurzeln sind nicht der böse Wille notorischer Tierquäler, sondern das kalte Gesetz der Marktwirtschaft, das sich einseitig am Ertrag wirtschaftlichen Handelns orientiert und damit der größte Feind jeder verhaltensgerechten Tierhaltung ist, auch der Putenhaltung. Wer aber kann Putenhaltern aufzeigen, wo einseitig am Ertrag orientiertes wirtschaftliches Handeln zu unerträglichem Leid für die Tiere führt? Zum Beispiel wir von PROVIEH.

Dennoch: Nach den neuen Puteneckwerten bleiben das Schnabelkürzen und die dramatisch hohen Tierdichten vorläufig auch weiterhin erlaubt. Das ist schmerzlich für die Tierschützer. Hätten sie sich deshalb aus den Beratungen zurückziehen sollen? Nein, denn dann hätte womöglich nicht der kleine Fortschritt erreicht werden können, der nur auf den ersten Blick unscheinbar wirkt: Zum ersten Mal in Deutschland soll für eine landwirtschaftlich genutzte Tierart durch ein "Gesundheitskontrollprogramm" am Schlachtband unmittelbar am Tier erfasst werden, welche Schäden und Leiden ihm durch die Haltung zugefügt wurden. Zeigen diese tierbezogenen Indikatoren zu schlechte Haltung und zu schlechtes Management an, muss der Tierhalter beides verbessern und notfalls auch die Besatzdichten verringern. Mit hohen Dichten - und damit zu wirtschaftlich günstigen Konditionen - werden nur noch diejenigen Putenhalter arbeiten dürfen, deren Tiere beim Kontrollprogramm nachweislich am besten abschneiden. Auch bei der geforderten Sachkunde der Tierhalter, der Strukturierung der Ställe, dem Angebot an verhaltensgerechtem Beschäftigungsmaterial und dem Vermeiden vernässter Einstreu wurden die Haltungsvereinbarungen verbessert - ein Erfolg, den die Tierschützer keinesfalls gefährden durften.

Um einen generellen Verzicht auf das Schnabelkürzen, wie er nach Paragraph 6 des Tierschutzgesetzes gefordert wäre, wurde in den zweijährigen Beratungen hart gerungen. PROVIEH führt seit mehreren Jahren eine Kampagne zur Abschaffung des Schnabelkürzens bei Geflügel. Doch anders als bei Legehennen ist die Problematik des Kannibalismus bei Puten in der Praxis ungleich schwerer zu lösen. Patentrezepte gibt es noch nicht. So bringt allein eine Reduktion der Besatzdichten keine Besserung, und selbst bei zwei Wochen jungen Putenhähnen, die versuchsweise mit unkupiertem Schnabel in niedriger Dichte gehalten wurden, traten unvertretbar hohe Verluste durch Kannibalismus auf. Sogar in extensiv bewirtschafteten (Bio)-Betrieben mit unkupierten Puten bei niedrigen Besatzdichten lassen sich zum Teil massive Schäden durch Schnabelhiebe und Picken beobachten. In Betrieben, die unkupierte Puten bei hohen Tierdichten intensiv mästen, treten solche Verhaltensstörungen noch häufiger auf. PROVIEH hat deshalb für das Land Nordrhein-Westfalen einen wissenschaftlich orientierten Lösungsvorschlag ausgearbeitet, der zurzeit in ersten Schritten mit Putenhaltern umgesetzt wird. Wir möchten das Leid des Schnabelkürzens nicht gegen das Leid des gegenseitigen Anfressens eintauschen, sondern beides wirksam beseitigt wissen.

Dafür kämpft unser Verein und wird sich deshalb auch weiterhin sachlich an den Verhandlungen mit der Putenwirtschaft beteiligen. Haben Sie Fragen dazu? Dann schreiben Sie uns!

Mehr zum Thema unter:
www.provieh.de/puteneckwerte

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2013, Seite 32-33
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Telefon: 0431/248 28-0
Telefax: 0431/248 28-29
E-Mail: info@provieh.de
Internet: www.provieh.de
 
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Schutzgebühr: 2 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2013