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ATOM/1217: Atommüll-Freigabe - Selbstverpflichtung zu einem Kenntnisstand von vor vier Jahrzehnten (Strahlentelex)


Strahlentelex mit ElektrosmogReport
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Nr. 706-707 / 30. Jahrgang, 2. Juni 2016 - ISSN 0931-4288

Atommüll-Freigabe
Selbstverpflichtung zu einem Kenntnisstand von vor vier Jahrzehnten

Von Thomas Dersee


Schleswig-Holsteinisches Umweltministerium formuliert "Vereinbarung zur ortsnahen Verwertung und Beseitigung von Abfällen mit keiner oder zu vernachlässigender Aktivität aus kerntechnischen Anlagen"


Die Betreiber kerntechnischer Anlagen, die Verbände der Entsorgungswirtschaft, die kommunalen Landesverbände, das schleswig-holsteinische Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume (MELUR) und die Umwelt- und Naturschutzverbände wie LNV, BUND und NABU sollen sich in einer Art Selbstverpflichtung zur "ortsnahen Verwertung und Beseitigung von Abfällen mit keiner oder zu vernachlässigender Aktivität aus kerntechnischen Anlagen" bekennen. Dabei sollen sie sich zur Anerkennung des Freigabeverfahrens nach dem sogenannten 10-Mikrosievert-Konzept (10 µSv-Konzept) gemäß Paragraph 29 der Strahlenschutzverordnung bekennen, das auf Risikoschätzungen nach dem Kenntnisstand von vor vier Jahrzehnten beruht. [1,2] Das wünscht sich der Minister "für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume" in Schleswig-Holstein, Robert Habeck (Die Grünen). Dazu ließ er sein Ministerium eine Vereinbarung formulieren, die die genannten Verbände unterschreiben sollen und die dem Strahlentelex vorliegt (Entwurf vom 27.4.2016).

Im Zusammenhang mit dem Ausstieg der Bundesrepublik Deutschland aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie und der Stilllegung deutscher Kernkraftwerke wird in Schleswig-Holstein das Ziel verfolgt, die kerntechnischen Anlagen vollständig zurückzubauen, heißt es einleitend in dem Text. Wesentliche Voraussetzung eines vollständigen Rückbaus sei "die Gewährleistung der Verwertung bzw. Beseitigung der bedeutenden Massen an Reststoffen und Abfällen mit zu vernachlässigender bzw. keiner Aktivität", die aus der Atomaufsicht entlassen sind. Dies betreffe "Stoffe, die von dem Gelände der Anlage kommen und solche, die aus der Anlage selbst kommen (uneingeschränkt freigegebene sowie zur Verbrennung oder Deponierung freigegebene Stoffe)".

Die größten Massenströme werden nach heutigen Schätzungen erst circa 10 bis 15 Jahre nach Erteilung der Abbaugenehmigung der Atomkraftwerke anfallen, wenn die Bauwerke aus dem Atomrecht entlassen sind, wird erklärt. Geringere Massen entstünden aber seit Jahren und seien auch während des Nachbetriebs und der ersten Rückbauphasen zu erwarten. Gegen die Rückführung dieser Abfälle in den Wirtschaftskreislauf oder ihre Deponierung würden jedoch "wiederholt aufgrund ihrer Herkunft aus einer kerntechnischen Anlage Bedenken geäußert, die zum Teil auch zu Unterbrechungen der Entsorgungspfade, zum Transport auf weit entfernte Deponien und zu ungeplanten Pufferlagerungen an den Standorten kerntechnischer Anlagen geführt haben und die in der Konsequenz zu Unterbrechungen von Rückbauprojekten führen können", beklagt der Minister.

Seine Vereinbarung greife deshalb die Bedenken auf und soll einen Beitrag zur Versachlichung des Umgangs mit Abfällen mit "keiner oder zu vernachlässigender Aktivität aus kerntechnischen Anlagen" leisten, indem die Beteiligten die Beseitigungswege transparent machen und sich dabei auf Basis des geltenden Strahlenschutz- und Abfallrechts einem hohen Schutz- und Sicherheitsniveau verpflichten. Sie soll deshalb "für die gesamte Dauer des Rückbaus der drei schleswig-holsteinischen Kernkraftwerke und der Forschungsreaktoranlage in Geesthacht einen transparenten und verlässlichen Rahmen bieten".

Die Vereinbarung gehe davon aus, heißt es weiter im Text der Vereinbarung, dass ein sicherer und zügiger Rückbau aller kerntechnischen Anlagen im gesamtgesellschaftlichen Interesse liege. Sie will deshalb eine Grundlage dafür bieten, "dass berechtigten Anliegen Rechnung getragen, unnötige Ängste genommen und einseitige regionale Belastungen vermieden werden, damit die bestehenden oder als solche wahrgenommenen Belastungen möglichst fair verteilt werden und es nicht zu vermeidbaren innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen kommt".

Zu den anzuerkennenden "Leitlinien" und "Grundsätzen" heißt es in dem Text, es werde das Ziel verfolgt, alle kerntechnischen Anlagen ohne vermeidbare entsorgungsbedingte Verzögerungen auf der Basis der geltenden Rechtsvorschriften zurückzubauen. Dazu sollen die unterzeichnenden Parteien unter anderem "die derzeit geltenden Rechtsgrundlagen des Atomund Strahlenschutzrechts sowie des Abfallrechts, insbesondere den § 29 Strahlenschutzverordnung, der die Rahmenbedingungen der Freigabe und die Anwendung des 10-Mikrosievertkonzeptes beschreibt", akzeptieren. Hiervon "unberührt bleiben" sollen aber "politische Bestrebungen und Diskussionen zur Änderung dieser bundesrechtlichen Vorschriften. Solchen - nicht Schleswig-Holstein spezifischen - Fortentwicklungen des Bundesrechts" sollen sich die unterzeichnenden Parteien "nicht verschließen", sie seien "aber nicht Aufgabe des hiesigen Rückbauprozesses".

Und Minister Habeck behauptet: "Auf Basis des geltenden Rechts stellen die am Entsorgungsprozess beteiligten Parteien ein hohes Sicherheitsund Schutzniveau sicher." Diese Vereinbarung und die darauf beruhenden Verfahrensschritte würden regelmäßig überprüft, insbesondere nach etwaigen Änderungen des Kreislaufwirtschafts- und/oder des Atom- und Strahlenschutzrechts.

Die unterzeichnenden Parteien sollen die Umsetzung dieser Vereinbarung und deren etwaigen Aktualisierungsbedarf im Rahmen einer Begleitgruppe verfolgen. Jede unterzeichnende Partei sei "befugt, bis zu zwei Vertreter in die Begleitgruppe zu entsenden". Die Begleitgruppe soll sich "in festen Abständen - z.B. jährlich -, aufgrund eines besonderen Anlasses oder auf Verlangen eines der Mitglieder" treffen und könne "im Rahmen des geltenden Rechts den Stand des Rückbauprozesses, etwaige Änderungen an den Verfahrensabläufen, weitere Öffentlichkeitsbeteiligungen und andere aktuelle Themen" diskutieren.

Die im Zuge des Rückbaus mittels uneingeschränkter Freigabe oder Herausgabe aus dem Atomrecht entlassenen Abfälle sollen entsprechend der abfallrechtlichen Hierarchie vorrangig einer Verwertung zugeführt werden, wenn dies technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar sei. Vorrangig sollen dazu Unternehmen aus der Region und aus Schleswig-Holstein beauftragt werden.

Die zu erwartenden großen Massen an uneingeschränkt freigegebenen mineralischen Abfällen (Beton) sollen "einer möglichst hochwertigen Verwertung als Ersatzbaustoff" zugeführt werden. Für die Verwertung mineralischer Abfälle (Beton) sollen vorzugsweise regionale Großbaumaßnahmen gewählt werden, heißt es in dem Text. Das Ministerium werde sich innerhalb der Landesverwaltung für eine Überprüfung einsetzen, wie Großbaumaßnahmen der öffentlichen Hand für die Verwendung dieser Ersatzbaustoffe geöffnet werden können.

Abfälle, die die Werte für die eingeschränkte Freigabe zur Beseitigung nach § 29 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 StrlSchV einhalten und eingeschränkt zur Deponierung oder Verbrennung freigegebene werden, sollen solchen Anlagen in Schleswig-Holstein zugeführt werden, die durch einen von der Strahlenschutzbehörde beauftragten Sachverständigen qualifiziert wurden. Hierfür sollen die Standortbedingungen und die Abläufe mit den Modellen, die den Freigabewerten und Anforderungen der Strahlenschutzverordnung zugrunde liegen, abgeglichen werden. Damit stelle diese Qualifizierung sicher, dass das 10-Mikrosievertkonzept nach § 29 Abs. 2 Satz 1 StrlSchV auch vor Ort eingehalten wird, heißt es in dem Text der Vereinbarung. Für eine Deponierung kämen in SchleswigHolstein grundsätzlich alle Deponien der Deponieklassen I und II nach der Deponieverordnung in Betracht, auf denen in den drei Kalenderjahren vor der Annahme im Mittel mindestens 10.000 Tonnen bzw. 7.600 Kubikmeter Abfälle abgelagert wurden.

Kommentar

Grundsätzlich ist Offenheit im Umgang mit Atommüll sehr zu begrüßen. Um es jedoch klar zu sagen: Der grüne Umweltminister in Schleswig-Holstein will im Rahmen einer Art Selbstverpflichtung aller Beteiligten einschließlich der Umwelt- und Naturschutzverbände ein Verfahren zur Freigabe in die Umwelt von durchschnittlich 95 Prozent der Abrißmaterialien aus stillgelegten Atomkraftwerken festschreiben lassen, das von Desinformationspolitik und falscher Risikokalkulation geprägt ist, keine Kontrollen der Kollektivdosis erlaubt und das auf einem Kenntnisstand über das Strahlenrisiko von vor vier Jahrzehnten beruht.[3]

Bei der Entwicklung des 10µSv-Konzeptes im Jahr 1998 wurde für die Dosis von 10 µSv von einem Risiko in Höhe von 1:10 Millionen ausgegangen, obwohl die ICRP bereits 1990 dafür von einem Risiko in Höhe von 1:2 Millionen ausging. Damit und mit den Empfehlungen aus dem Jahr 2007 wurden Erkenntnisse aus den 1970er Jahren umgesetzt. Die Grenzwerte wurden jedoch nicht entsprechend korrigiert. Das Risiko von 1:10 Millionen entspricht dagegen dem Stand der Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) aus dem Jahr 1977, die bei der Entwicklung des 10 µSv-Konzeptes immer noch angewandt wurden. Bereits in den 1990er Jahren hatte es zudem unabhängige Auswertungen der Daten von Hiroshima und Nagasaki gegeben, die noch deutlich höhere Risiken ergaben, die die ICRP jedoch 2007 unberücksichtigt ließ.[1]

Th.D.


Literatur

1. Thomas Dersee: Nicht 1 mSv, nicht 10 µSv, sondern 0,25 µSv zusätzliche Strahlenbelastung pro Jahr müssten es sein, würden internationale Regeln angewendet. Strahlentelex 696-697, 7.1.2016, S. 1-3,
www.strahlentelex.de/Stx_16_696-697_S01-03.pdf

2. Hagen Scherb: Risikobasierte, nicht dosisbasierte Sicherheitskriterien müssen für die Atommülllagerung entwickelt und angewendet werden. Strahlentelex 696-697, 7.1.2016, S.3-5,
www.strahlentelex.de/Stx_16_696-697_S03-05.pdf

3. Thomas Dersee, Werner Neumann: Das Öko-Institut hat keine Bedenken gegen die Freigabe von Atomabfällen. Strahlentelex 688-691 v. 3.9.2015, S.1-6,
www.strahlentelex.de/Stx_15_688-691_S01-06.pdf


Der Artikel ist auf der Website des Strahlentelex zu finden unter
http://www.strahlentelex.de/Stx_16_706-707_S08-09.pdf

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Quelle:
Strahlentelex mit ElektrosmogReport, Juni 2016, Seite 8 - 9
Herausgeber und Verlag:
Thomas Dersee, Strahlentelex
Waldstr. 49, 15566 Schöneiche bei Berlin
Tel.: 030/435 28 40, Fax: 030/64 32 91 67
E-Mail: Strahlentelex@t-online.de
Internet: www.strahlentelex.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2016

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