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ATOM/1114: Reaktordruckbehälter von Siedewasserreaktoren kann aufreißen (IPPNW)


IPPNW - Berlin, den 23. September 2010

Zu viel Druck im Reaktor

Siedewasserreaktoren können an Bodenschweißnaht aufreißen


Nach Informationen der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW sind die alten Siedewasserreaktoren Brunsbüttel, Isar-1 und Philippsburg-1 ("Baureihe 69") durch unzulässige Spannungen am Reaktordruckbehälter gefährdet. Bei Störfällen kann es zum Versagen des Reaktordruckbehälters kommen. Eine ausreichende Kühlung des Reaktorkerns wäre dann vermutlich nicht mehr gewährleistet. Aktuelle Berechnungen bestätigen die Problematik.

Hinter den Kulissen ist schon lange bekannt, dass an den Reaktordruckbehältern der Siedewasserreaktoren der Baureihe 69 in kritischen Bereichen (u.a. Bodenschweißnaht) deutlich überhöhte Spannungen erreicht werden können. Nach den Genehmigungen der Atomkraftwerke sind unter Verweis auf den so genannten ASME-Code lediglich Spannungen bis zu 177 Newton/mm2 zulässig. Schon Anfang der 1970er Jahre wurde aber durch Messungen und Berechnungen an einem Testbehälter festgestellt, dass unter Auslegungsbedingungen tatsächlich Spannungen bis zu 320 N/mm2 erreicht werden können.

Aktuelle Berechnungen eines unabhängigen Instituts für Bruchmechanik bestätigen nun das deutliche Überschreiten der zulässigen Spannungen (ca. 325 N/mm2).

Selbst nach TÜV-Vorgaben (VdTÜV-Werkstoffblätter) wären unter Berücksichtigung der erforderlichen Sicherheitsreserven lediglich Spannungen in der Größenordnung von 280 N/mm2 zulässig.

Die möglichen überhöhten Spannungen sind das Ergebnis von gravierenden Konstruktionsfehlern der Baureihe 69. Zu dieser Baureihe gehört auch das österreichische Atomkraftwerk Zwentendorf, das nicht zuletzt aufgrund dieser Problematik nach einer Volksabstimmung nie in Betrieb ging. In Österreich wurde damals öffentlich, dass die Bodenschweißnaht des Reaktordruckbehälters bei diesem Reaktortyp im Bereich von Biegespannungen liegt. Schweißnähte in dieser Gefahrenzone widersprachen aber schon damals der österreichischen Dampfkesselverordnung (DKV) wie auch den geltenden Werkstoff- und Bauvorschriften (WBV). Das österreichische Bautenministerium erteilte daraufhin eine "Ausnahmebewilligung" - ausgerechnet für ein Atomkraftwerk.

Der damalige Leiter des Instituts für Materialwissenschaften an der Uni Wien hatte zudem angemerkt, dass "Schweißnähte in dickwandigen Konstruktionen nie absolut fehlerfrei ausgeübt werden können". Gegen die Vorschriften verstießen ferner die hohen Biegespannungen im Bodenbereich des Behälters. Bemängelt wurde nicht zuletzt auch die verwendete Stahlqualität für den Reaktordruckbehälter der Baureihe (ASTM SA 508 Class 2), weil diese eine erhöhte Neigung zur Rissbildung hat.

Durch die langjährigen hohen Druckbeanspruchungen der Behälter in deutschen Siedewasserreaktoren ist nach Einschätzung von Fachleuten eine Verschlechterung des Werkstoffverhaltens zu erwarten (Zähigkeit). Das bedeutet, dass es mit zunehmender Wahrscheinlichkeit zu einem Riss in der Bodenschweißnaht des Reaktordruckgefäßes kommen kann. Als gefährdet wird der gesamte Bodenbereich des Behälters angesehen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Prüfbarbeit der betroffenen Schweißnaht nach Expertenmeinung allenfalls eingeschränkt möglich ist, so dass verborgene Anrisse möglicherweise nicht rechtzeitig erkannt werden können. Kommt es zum Riss im Reaktordruckgefäß, dann muss man davon ausgehen, dass der Reaktorkern nicht mehr hinreichend gekühlt werden kann und es zur Kernschmelze kommen kann.


Hinweis: "Spiegel Online" berichtet heute zu dieser Thematik:
"Forscher warnen vor porösen Alt-Meilern"
http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/0,1518,718739,00.html

Über die IPPNW:

Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


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Quelle:
Presseinformation der IPPNW - Deutsche Sektion der
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 23.09.2010
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Sven Hessmann, Pressereferent
Tel.: 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2010