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ATOM/1239: Weiterbetrieb der belgischen Atomkraftwerke Doel 3 und Tihange 2 verantwortungslos (Solarbrief)


Solarbrief - 2. Ausgabe 2014
Zeitschrift des Solarenergie-Fördervereins Deutschland e.V.

Weiterbetrieb der belgischen Atomkraftwerke Doel 3 und Tihange 2 verantwortungslos

von: Aktionbündnis gegen Atomenergie Aachen



Im Januar 2014 fand in Aachen eine Experten-Konferenz zu den Defekten in den Reaktordruckbehältern der belgischen AKWs Doel 3 und Tihange 2 statt. Die Konferenz wurde vom Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie gemeinsam mit der Grünen Fraktion im Europa-Parlament organisiert. Die teilnehmenden Wissenschaftler sind Spezialisten für Materialwissenschaften, Bruchmechanik und Reaktorsicherheit. Unter ihnen waren der frühere technische Leiter der deutschen Atomaufsicht Dieter Majer, Rainer Moormann aus der Kernforschungsanlage Jülich, sowie ein früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter der US-Amerikanischen Atomaufsicht NRC. Die Experten kommen zu dem einhelligen Schluss, dass das Wiederanfahren der beiden Reaktoren nach allen zur Verfügung stehenden Fakten niemals hätte erfolgen dürfen.

Zwei Monate später werden die Warnungen der Konferenzteilnehmer bestätigt: Nach offenbar katastrophalen Testergebnissen werden Doel 3 und Tihange 2 unverzüglich und unplanmäßig durch den Betreiber und die belgische Atomaufsicht abgeschaltet. Die Ergebnisse der Konferenz wurden in einem Report veröffentlicht.


Kurzfassung des Reports zu Defekten in den Reaktordruckbehältern

Im Sommer 2012 wurden in den Reaktordruckbehältern (RDB) der beiden belgischen Kernkraftwerke (KKW) Doel 3 und Tihange 2 Defekte in einer bis dahin unbekannt hohen Anzahl gefunden. Der Betrieb der beiden Reaktoren wurde daraufhin vorübergehend gestoppt. Die Defekte besitzen eine durchschnittliche Größe von 1,0 cm und eine maximale Größe von 2,4 cm. Im Reaktordruckbehälter von Doel 3 wurden über 8.000 und in dem von Tihange 2 mehr als 2.000 Defekte 1 identifiziert. Die belgische Atomaufsicht FANC forderte eine Untersuchung durch den Betreiber. Diese Untersuchung wurde von der FANC bewertet und endet mit ihrem Abschlussbericht. Die FANC genehmigte im Mai 2013 die Wiederaufnahme des Betriebes der beiden Reaktoren.

Der Reaktordruckbehälter (RDB) ist das zentrale Bauteil eines Reaktors. Direkt in ihm befinden sich die Brennstäbe und dort erfolgt die Kernspaltung. Der RDB wird aus einzelnen Stahlringen gefertigt, die aneinander geschweißt werden. Der RDB ist großen Belastungen ausgesetzt.

Im Betrieb besitzt der Behälter eine Temperatur von rd. 300 °C und einen Druck von rd. 160 bar. Das Starten und Abfahren aber auch Reaktorschnellabschaltungen stellen eine besondere Belastung für den RDB dar. Während des Betriebes ist die Druckbehälterwand dem durch die Kernspaltung hervorgerufenen Neutronenbeschuss ausgesetzt. Durch all diese Vorgänge versprödet der Stahl.

Es gehört zum Standard aller Untersuchungen von kerntechnischen Anlagen, dass bei der Betrachtung von Auslegungsstörfällen vorausgesetzt wird, dass der Reaktordruckbehälter nicht versagen darf (jährliche Eintrittswahrscheinlichkeit kleiner als 10-7). Eine Leckage oder ein Bersten des RDB ist unter allen Umständen zu vermeiden, weil dies zwangsläufig zur Kernschmelze führen würde.

Die hohe Anzahl der Defekte in beiden Reaktordruckbehältern erhöht die Gefahr eines spontanen Versagens und damit einer Kernschmelze und der Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe. Eine Vorwarnzeit zur Einleitung von Evakuierungsmaßnahmen ist in diesem Fall nicht gegeben. Ein solcher Unfall könnte die Ereignisse von Fukushima und - aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte - möglicherweise sogar die Ereignisse von Tschernobyl übertreffen.

Aufgrund der genannten Gefährdung, die diese Defekte verursachen können, wurde die diesem Bericht zugrundeliegende Konferenz durch das Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie und die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament einberufen. Die eingeladenen Experten hatten die Aufgabe zu bewerten, ob der Betrieb der Anlage auch mit diesen vorhandenen Defekten zu verantworten ist. Als Grundlage dienten die von der FANC veröffentlichten Unterlagen und weitere Normen.

Die Konferenz arbeitete anhand der veröffentlichten Unterlagen signifikante Klassen von Kritikpunkten heraus: methodische Fehler, defizitäre Herstellungsdokumentation und Fehler bei Untersuchungsdetails.

In Summe ergab die Bewertung, dass ein Weiterbetrieb der Anlagen nach anerkannten internationalen Normen nicht zulässig ist. Neben den Kritikpunkten stieß die Expertenrunde aber auch immer wieder auf Fragen, die anhand der veröffentlichten Unterlagen nicht zu beantworten sind. Aus diesem Grund wurde ein Fragenkatalog für die FANC erarbeitet. Die methodischen Fehler betreffen folgende Punkte:

  • die notwendige Konservativität bei Abschätzung und Berechnung ist nicht vorhanden
  • der Ursprung der Defekte kann nicht identifiziert werden
  • die realen Materialeigenschaften im RDB sind dem Betreiber und der FANC unbekannt.

Konservativität beschreibt einen Grundsatz der Ingenieurwissenschaften. Annahmen werden immer so getroffen, dass sie den ungünstigsten Fall abdecken. Gelingt unter diesen Annahmen der Nachweis der Eignung, gilt der Ansatz als konservativ. Er berücksichtigt Unsicherheiten und Ungenauigkeiten von Annahmen. In diesem Fall befindet man sich "auf der sicheren Seite". Wichtige Teile der von der FANC akzeptierten Untersuchungen lassen diese Konservativität vermissen. Konservative Ansätze des von der FANC einberufenen internationalen Experten Ausschusses (International Expert Review Board IERB) werden sogar ignoriert. Eine der von diesem Ausschuss ausgesprochenen Empfehlungen hätte zu einem sofortigen Scheitern der Betriebsfähigkeit der beiden Reaktoren geführt.

Der Ursprung der Defekte ist nicht geklärt. Dennoch folgt die FANC der Erklärung des Betreibers Electrabel, dass diese während der Herstellung entstanden sind. Diese Hypothese stützt der Betreiber auf der Tatsache, dass es kein anderes Erklärungsmuster gäbe. Solch eine Annahme kann nicht als konservativ akzeptiert werden. Es wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Herstellung des RDB diese Defekte - auch mit der damals zur Verfügung stehende Technik - hätten erkannt werden müssen. Bei mindestens einem Ring des RDB von Tihange 2 wurde wegen zu vieler Defekte die Abnahme verweigert. Das abgelehnte Bauteil wurde nicht eingebaut, sondern durch ein anderes ersetzt. Bei konservativer Vorgehensweise muss daraus geschlossen werden, dass die jetzt bekannt gewordenen Defekte nicht während der Herstellung, sondern während des Betriebes entstanden sind. Wäre dies jedoch der Fall, muss eine Aufsichtsbehörde den Weiterbetrieb dieser beiden Reaktoren untersagen.

Die realen Materialeigenschaften können nicht bestimmt werden. Diese sind jedoch die notwendige Grundlage jeder weiteren Betrachtung. Es gibt kein repräsentatives Probenmaterial, an dem die aktuellen Materialeigenschaften hätten ermittelt werden können. Da die Entnahme von Probenmaterial aus dem Reaktordruckbehälter technisch nicht möglich ist, muss repräsentatives Probenmaterial vorhanden sein. Repräsentativ heißt in diesem Zusammenhang, dass Material vorhanden sein muss, das zum einen aus dem gleichen Herstellungsprozess wie der RDB stammt, und zum anderen einen vergleichbaren Alterungsprozess durchlaufen hat. Unter Alterung wird hier ein vergleichbare Belastung durch den Betrieb verstanden, insbesondere der Neutronenbeschuss und das Hoch- und Runterfahren des Reaktors (Druck- und Temperaturänderungen). Als vermeintlich repräsentatives Material wird von Electrabel ein verworfenes Stück aus dem Dampferzeuger eines französischen Kernkraftwerks sowie ein Reststück der Ausschnitte für die Leitungen des Primärkühlkreises von Doel 3 verwendet. Beide Proben haben keinen vergleichbaren Alterungsprozess erfahren, sie waren weder Strahlung noch Temperatur/Druckwechsel ausgesetzt. Der Ausschnitt von Doel 3 weist keine vergleichbaren Defekte auf. Das Probenstück vom Dampferzeuger kann weder von der Spezifikation noch von der Herstellung her als repräsentatives Material bezeichnet werden. Der Dampferzeuger wurde im Jahr 2012 hergestellt, also 30 Jahre nach den beiden RDB. Es ist kaum davon auszugehen, dass der Dampferzeuger auch nur unter annähernd vergleichbaren Bedingungen hergestellt wurde. Die Vergleichbarkeit der Defekte im Probenstück des französischen Dampferzeugers kann nicht nachgewiesen werden. Diese beiden Probenstücke als repräsentativ anzuerkennen kann nicht als konservativ betrachtet werden.

Die Zuverlässigkeit dieser drei Eingangsgrößen ist unabdingbar für jede weiter qualifizierte Analyse. Übereinstimmend stellen die Konferenzteilnehmer fest, dass die Zuverlässigkeit der Eingangsgrößen bislang nicht gesichert ist. Aus diesem Grund ist jede weitere wissenschaftlich seriöse Analyse nicht möglich. Normalerweise müsste an dieser Stelle jede weitere Diskussion abgebrochen werden.

Solange durch den Betreiber keine belastbareren Eingangsgrößen nachgeliefert werden können, ist der Betrieb beider Reaktoren nicht zu verantworten und müsste von einer neutralen Aufsichtsbehörde verweigert werden. Dieser Bericht beschreibt die Punkte, die geklärt werden müssen, bevor die beiden Reaktoren wieder in Betrieb genommen werden können.

Trotz dieser Folgerung wurde von den Konferenzteilnehmern auftragsgemäß die Argumentation der FANC, die zur Entscheidung zum Weiterbetrieb der Anlagen geführt hatte, analysiert.

Es wird mehrfach von der FANC angemerkt, dass die vorhandene Herstellungsdokumentation widersprüchlich und unvollständig ist. Zur Bewertung der Qualität einzelner Bauteile des RDB ist eine lückenlose und widerspruchsfreie Dokumentation zwingend erforderlich. Prüfungen während des Betriebs sind wichtig und notwendig, sie allein können jedoch niemals dazu dienen die Qualität eines Bauteils zu bewerten, dies kann nur gemeinsam mit der Herstellungsdokumentation erfolgen.

Innerhalb der Detailbetrachtung erscheinen besonders folgende Punkte relevant:

  • Auslegungsstörfälle werden vereinfacht und offensichtlich nicht explizit durch Berechnung nachgewiesen.
  • Empfohlene Sicherheiten werden nicht angewendet.

Aus den veröffentlichten Unterlagen ist nicht ersichtlich welche Auslegungsstörfälle (Leckagen und Transienten) berücksichtigt wurden. Mit Hilfe dieser beiden Punkte werden die den RDB am meisten belastenden Situationen ermittelt. Es gab wohl eine Diskrepanz zwischen der FANC und dem Betreiber, welcher Lastfall der am meisten belastende ist [14]. Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob einfach beide Lastfälle explizit berechnet wurden.

Empfohlene Sicherheiten der von der FANC einberufenen Internationalen Experten Gruppe (IERB) werden nicht angewendet. Im "Final Report" der FANC wird diese Empfehlung ohne jede weitere Begründung ignoriert. Die Anwendung dieser Empfehlung hätte zur sofortigen Stilllegung der beiden Reaktoren führen müssen.

Synonym für Fehlstellen, Indikationen

Report:
Defekte in den Reakordruckbehältern
von Doel 3 und Tihange 2
Herausgeber:
Aktionsbündnis gegen Atomenergie Aachen
Vollständiger Report: www.anti-akw-ac.de/


Viele Artikel aus dem Solarbrief befinden sich, neben der Möglichkeit, die Zeitschrift im PDF-Format vollständig herunterzuladen, auch als eigener Beitrag auf www.sfv.de. Da diese zum Teil ständig aktualisiert werden, empfiehlt sich bei Interesse ein zusätzlicher Blick auf die SFV-Website.


Link zur Studie:
http://www.anti-akw-ac.de/documents/11101/31062/Report_DE.pdf

Informationsblatt zum Atomkomplex Tihange
http://www.anti-akw-ac.de/documents/11101/0/Infoblatt_Tihange.pdf

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Quelle:
Solarbrief, 2. Ausgabe 2014, Seite 30-32
Herausgeber:
Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2014