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ATOM/945: Finnland - Fehlendes Fachwissen bei Atomkraftwerks-Personal (IPPNW)


IPPNW - Berlin, den 12. Oktober 2009

Atomaufsicht beanstandet "fehlendes Fachwissen" bei Atomkraftwerks-Personal

IPPNW: Union und FDP müssen den Pfusch in deutschen Atomkraftwerken endlich Ernst nehmen


Vor dem Hintergrund von mehr als 3000 Fehlern beim Bau des Europäischen Druckwasser-Reaktors (EPR) in Finnland hat die dortige Atomaufsichtsbehörde STUK dem Personal des Atomkraftwerksherstellers AREVA "fehlendes Fachwissen" vorgeworfen (vgl. "Der Spiegel" vom 12.10.09, S. 120).

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW appelliert deshalb an Union und FDP, die Kritik an der fehlenden Zuverlässigkeit des in deutschen Atomkraftwerken bei Prüfungen und Nachrüstungen eingesetzten Personals von AREVA (ehemals Siemens) endlich Ernst zu nehmen. "Unsere Recherchen zum Atomkraftwerk Biblis haben ergeben, dass das Personal von Siemens beziehungsweise AREVA bei sicherheitsrelevanten Arbeiten in deutschen Atomkraftwerken vielfach schwerwiegende Fehler gemacht hat. Der IPPNW liegen zudem die Aussagen von zwei ehemals in Biblis Beschäftigten vor, die übereinstimmend berichtet haben, dass bei sicherheitsrelevanten Arbeiten teilweise inkompetentes Personal eingesetzt wurde", so IPPNW-Atomenergie-Experte Henrik Paulitz. "Die neue Bundesregierung muss daher die erforderlichen Konsequenzen ziehen und die gefährlichen Atommeiler zügig vom Netz nehmen."

Der von der finnischen Atomaufsichtsbehörde monierte Pfusch beim Atomkraftwerksbau in Finnland ist offiziellen Dokumenten zufolge ganz ähnlich in deutschen Atomkraftwerken zu beobachten. So wurden in Biblis bei Nachrüstungen im Notkühlsystem falsche Ventilteile eingebaut, sicherheitstechnisch wichtige Schrauben an Armaturen vergessen, Schalter des Notstromsystems falsch verdrahtet, Elektro- Arbeiten an einer falschen Stelle des Notstromsystems durchgeführt, die Ansteuerung einer Feuerlöschpumpe selbst nach festgestellter falscher Verkabelung erneut "fehlerhaft montiert", Regler eines Notstromdiesels fehlerhaft eingestellt und ein Messumformer sowie 15 Schalter des Notspeisewassersystems falsch eingestellt.

In Finnland entschieden Arbeiter, Teile eines Messfühlers an einer falschen Stelle anzubringen, weil der vorgesehene Platz für das Messsystem zu schwer zugänglich war. Auch hier sieht Paulitz Parallelen: "In Biblis hat man als Konsequenz aus der Teil- Kernschmelze von Harrisburg eine Messung des Reaktordruckbehälter- Füllstands nachgerüstet. Weil aber die vier erforderlichen Messfühler nicht an vier unterschiedlichen Positionen im Reaktordruckbehälter montiert werden konnten, hat man sie einfach an nur zwei Stellen angebracht. Nach Beurteilung des TÜV kann es daher zu Messfehlern kommen", so Paulitz. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) hat laut IPPNW bezogen auf die älteren deutschen Atomkraftwerke generell festgestellt, dass die Prüffähigkeit sicherheitsrelevanter Komponenten eingeschränkt ist, weil diese nur schwer zugänglich sind.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW fühlt sich durch die finnische Atomaufsichtsbehörde auch in ihrer bereits im Dezember 2003 geäußerten Kritik bestätigt, wonach beim Bau des Europäischen Druckwasser-Reaktors (EPR) in Finnland wie auch in deutschen Atomkraftwerken zunehmend eine "unausgereifte Steuerungstechnik" (digitale Leittechnik) von Siemens bzw. AREVA eingesetzt wird. So stellte der Direktor der finnischen Aufsichtsbehörde, Petteri Tiippana, fest, dass die wichtigste ungeklärte Frage das (ursprünglich von Siemens konzipierte) Leitsystem des Atomkraftwerks betrifft. In einem Protest-Schreiben an AREVA schreibt Tiippana, er vermisse "wirklichen Fortschritt" beim "Design der Kontrollsysteme". Zudem bemängelte er, dass "Designfehler nicht korrigiert werden." (vgl. "Der Spiegel" vom 12.10.09, S. 120) Paulitz erinnert daran, dass es im deutschen Atomkraftwerk Neckarwestheim-1 am 10. Mai 2000 wegen der neuen Siemens-Leittechnik zur Blockade des Reaktor- Schnellabschaltsystems kam.

Über die IPPNW: Diese Abkürzung steht für International Physicians for the Prevention of Nuclear War. Die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges engagieren sich seit 1982 für eine Welt ohne atomare Bedrohung und Krieg. 1985 wurden sie dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Seit 1990 stehen zusätzlich gesundheitspolitische Themen (z.B. Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere, Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten) auf dem Programm des Vereins. In der IPPNW sind rund 7.000 ÄrztInnen und Medizinstudierende organisiert.


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Quelle:
Presseinformation der IPPNW - Deutsche Sektion der
Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, 12.10.2009
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Sven Hessmann, Pressereferent
Tel.: 030-69 80 74-0, Fax: 030-69 38 166
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2009