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FRAGEN/026: Mara Puntano, Argentinien - "Die Wichí trinken Wasser aus Glyphosat-Kanistern" (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Argentinien
"Die Wichí trinken Wasser aus Glyphosat-Kanistern"

von La Retaguardia


Mara Puntano ist Journalistin und Anwältin aus Salta. Sie beschreibt das Leben der Wichí-Gemeinden in Salta im Nordwesten Argentiniens und spricht von Genozid.

(Buenos Aires, 24. Februar 2020, anred) - Mara Puntano ist Journalistin und Anwältin aus Salta. Sie beschreibt das Leben der Wichí-Gemeinden in Salta im Nordwesten Argentiniens. Sie erzählt, wie schwierig es für die Wichí ist, an Trinkwasser zu gelangen und dass der Staat sie schon seit langem in ihrem Leiden alleine lässt. Puntano spricht von Genozid, vergleicht die Situation mit der Kolonialisierung und spielt auf die Korruption in der Politik an. Als dieser Beitrag veröffentlicht wird, wird der Tod eines weiteren Wichí-Kindes bekannt. Ayelén Torres ist bereits das neunte Kind der Wichí-Gemeinde, das in kurzer Zeit gestorben ist. Sie kam aus Santa María, und das nächste Krankenhaus ist 22 Kilometer entfernt.

'In Salta sterben Kinder an Unterernährung' [1], heißt es in den Nachrichten. Die Anwältin und Journalistin Mara Puntano erklärt in diesem Gespräch ausführlich die Hintergründe und das wahre Ausmaß eines Problems, welches bereits seit langem existiert. Deshalb bedarf es schneller Hilfe, doch Lösungsansätze scheinen noch weit entfernt. Stattdessen hört man nur Versprechen des Ministers für soziale Entwicklung, Daniel Arroyo, sowie von einigen Unternehmern wie Marcelo Tinelli. Er versprach Brunnen in der Region zu errichten, denn die Wasserversorgung ist eines der größten Probleme der Gemeinden.

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La Retaguardia: Wir alle kennen die Situation der Wichí, aber ich würde gerne eine erste Einschätzung von dir bekommen und wissen, wie das in deinen Augen der Rest der Gesellschaft erlebt.

Mara Puntano: Was sich hier zeigt, ist die Absurdität unseres Systems. Leider ist Salta noch immer von seiner Vergangenheit geprägt, der Eroberung vor 500 Jahren. Damals wurde damit begonnen, die indigene Bevölkerung systematisch auszurotten. Diese hat jedoch Widerstandsstrategien entwickelt, so dass es seit 500 Jahren nicht möglich war, die Indigenen auszulöschen. Die Provinz Salta weist innerhalb Argentiniens die größte ethnische Vielfalt auf. Dort leben 14 verschiedene Ethnien mit ihren individuellen Formen der Sprachen, der Kultur und des Widerstandes. Auf unterschiedliche Art und Weise haben sie gelernt zu schweigen und zu überleben. Dabei ist offensichtlich, dass der Kampf gegen dieses System und die Conquista noch nicht vorbei ist. Noch immer müssen sich die Ureinwohner*innen in Salta den spanischen Einwander*innen unterwerfen, die damals mit dem Schwert und dem Kreuz das Land einnahmen und das ihre Nachkommen bis heute beherrschen. Daraus resultiert ein Völkermord an einer der friedlichsten indigenen Volksgruppen, den Wichí.

Für diejenigen, die mit der Situation in der Region wenig vertraut sind; inzwischen hat das Vorgehen gegen die Indigenen ein derartiges Ausmaß angenommen, dass sich die Lebensweise der Wichí deutlich verändert hat.

Das ist richtig. Ursprünglich waren die Wichí ein Nomadenvolk. Sie sind durch das Land gezogen und haben in der Wildnis als Jäger*innen und Sammler*innen gelebt. Sie haben sich von Mutter Erde ernährt, von der Fischerei und der Jagd. Nun sind die Wichí der Politik der korrupten nationalen und lokalen Regierungen schutzlos ausgeliefert. Sie werden ausgebeutet und von dem Land ihrer Vorfahren vertrieben. Man muss wissen, das sich das Volk der Wichí aus mehr als tausend Gemeinschaften zusammensetzt. Doch nur die wenigsten haben einen rechtlichen Status. Die Mehrheit lebt noch immer nach ihrer nomadischen Tradition. Sie ziehen dorthin, wo es Nahrung gibt. Doch wo früher Bäume standen, vor allem Johannisbrotbäume, befinden sich nun eingezäunte Sojafelder. Der Johannisbrotbaum dient den Wichí als wichtige Nahrungsquelle, das Holz nutzen sie für Handwerk, Kunst und Möbel - die Wichí haben großes Talent für die Holzarbeit.

Auch durch die Soja-Monokulturen fehlt den Wichí der Johannisbrotbaum als Nahrungsgrundlage und Rohstoff für ihr Handwerk. Darüber hinaus werden sie beim Fischen von der Wasserschutzpolizei verfolgt - oder vielmehr vertrieben. Die Wichí bewegen sich vor allem zwischen den Flüssen Bermejo und Pilcomayo, die einen Teil der argentinischen Grenze zu Bolivien bilden. Genau in dieser Region werden sie nicht nur durch den Sojaanbau eingeschränkt, sondern auch durch die Erdölunternehmen, die dort Fracking betreiben und das Wasser verschmutzen. Darüber hinaus haben die Ölunternehmen polizeiähnliche Sicherheitsdienste, so dass bei jeder Art von Protest die Ureinwohner*innen kriminalisiert werden. Die Wichí sprechen häufig kein Spanisch und können sich daher nicht mit Rechtsmitteln wehren. Folglich werden sie immer wieder grundlos inhaftiert.

Gerade Frauen haben keinen Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem. Nötig wäre ein bilinguales Programm und Dolmetscher*innen in der Justiz, dem Bildungssystem und dem Gesundheitswesen. Denn die Gesetze müssen auch für die Indigenen verständlich sein und der Zugang zu öffentlicher Infrastruktur darf ihnen nicht verwehrt bleiben. Doch ihre Rechte können sie bislang nicht wahrnehmen. Die Folge ist eine Hungersnot und die Schwächsten sterben daran. Daher sprechen wir von einem Ethnozid, einem Völkermord, und dieser hält schon seit langer Zeit an.

Salta hat eine dermaßen feudale Struktur, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung längst daran gewöhnt hat. Diese Gleichgültigkeit geht soweit, dass das Abgeordnetenhaus hinter verschlossenen Türen und im Schnellverfahren ein Gesetz verabschiedet hat, welches der Gouverneur (Gustavo) Sáenz einbrachte. Nötig gewesen wäre ein legislatives Verfahren, um den sozialen Notstand aufgrund der Hungerkrise auszurufen und den indigenen Gemeinden zu Hilfe zu kommen. Stattdessen aber wurde ein Gesetz verabschiedet, auf Grundlage dessen die Zahl der Richter*innen am Gerichtshof erhöht wird. Dies dient in erster Linie dazu, dem Bruder des ehemaligen Gouverneurs Juan Manuel Urtubey [2], der bislang als Abgeordneter für die Verwaltung des historischen Reparationsfonds zuständig war, eine bessere Position zu verschaffen. Dabei wissen alle, dass er dafür verantwortlich war, den Gemeinden Zugang zu Trinkwasser zu ermöglichen und dass dies letztendlich nie umgesetzt wurde. Daher ist offensichtlich, wer die Verantwortlichen für diesen Völkermord sind. Urtubey hat vom Staat Millionen zur Verfügung gestellt bekommen, um diese Hungersnot zu beenden. Jedoch kamen die Gelder nie bei den indigenen Gemeinschaften an und nun hat die Regierung zahlreiche Todesfälle zu verantworten. 32 Kinder liegen im Krankenhaus, während sich 2000 Kinder weiterhin in Lebensgefahr befinden. Die Verwaltung des Reparationsfonds liegt weiterhin in den Händen des Bruders, welcher in Kürze Justizminister sein wird, sobald das Vorhaben durch den Senat gewunken wird. Und damit werden mögliche Hilfsgelder für die Indigenen endgültig versiegen.

Die nationale Regierung hat einige Maßnahmen angekündigt, die der Minister Arroyo im Rahmen seiner Reise vorantreiben will. Bedeutet das, dass konkrete Maßnahmen umgesetzt werden?

Nein. Ich muss zugeben, dass einige der Beamt*innen der Zentralregierung durchaus guten Willen zeigen, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die Politik zwar auf dem Papier viel verspricht, aber nur wenig mit der Realität zu tun hat. Wir sprechen von den Regionen Rivadavia Banda Norte, San Martín und Orán. Dort lebt die indigene Bevölkerung in Hütten aus vier Stöcken mit Plastik und Nylon, wo die Menschen auf dem Boden schlafen müssen

An diesem Punkt des Gesprächs verliert Mara Puntano die Fassung. Ihre Stimme wird brüchig und versagt, so dass sie das Interview unterbrechen muss. Nach einer kurzen Pause fährt sie dennoch fort, da sie weiß, dass es wichtig ist, diese Missstände auszusprechen.

Ich wiederhole: Man hat den Wichí das Wenige genommen, was sie zum Leben brauchen: ihre Bäume, das Wasser der Flüsse und die Fische. Gibt man ihnen stattdessen eine Kreditkarte in die Hand, um in den Supermarkt zu gehen, wurde einfach nicht bedacht, dass es in den Dörfern nichts zu kaufen gibt und die Indigenen daher viele Kilometer weit laufen müssen. So währt diese "Sklaverei" fort, denn der Supermarkt, wo sie sich von ihrem wenigen Geld vielleicht ein Paket Mehl leisten können, gehört wiederum dem korrupten Gemeinderat, der sich das Geld in die eigene Tasche steckt. Vielleicht haben einige auch durchaus gute Absichten, doch letztendlich wird die arme Bevölkerung weiter ausgebeutet.

Was es braucht, ist sowohl auf nationaler als auch auf lokaler Ebene eine Politik, die an der Wurzel des Problems ansetzt. Was dabei im Mittelpunkt stehen muss, ist der Respekt für die indigenen Völker und ihr Recht, ihr Land selbst zu verwalten. Sie müssen Kontrolle über ihre natürlichen Ressourcen haben dürfen, über das Land, die Flüsse und den Zugang zu Wasser. Sie sollten so leben können, wie sie es schon immer gemacht haben und ihre Kultur ausüben dürfen. Doch stattdessen werden die Wichí ausgeschlossen und sind gleichzeitig einer Politik des systematischen Völkermordes ausgesetzt. Genau das Gleiche ist schon einmal während der "Wüstenkampagne" [3] passiert, nur dass es diesmal modern durchgeführt wird: Es fällt kein Schuss, es wird keine Kugel vergeudet, heutzutage überlässt der Staat die Menschen einfach dem Tod, indem er sie verhungern und verdursten lässt.

Pestizide werden auf dem Land der Ureinwohner*innen versprüht, sie trinken das Wasser, das sie in Glyphosat-Kanistern aufsammeln. Das wenige Wasser in der Region ist mit Blausäure kontaminiert oder wird zu kommerziellen Zwecken genutzt. So gibt es bereits in Puna ein großes Bergwerk und es sind 120 weitere Lithium-Projekte geplant. Das ist eine Verletzung der Menschenrechte und wenn wir der Sache nicht auf den Grund gehen, wird sich das Problem auch nicht lösen. Es sterben Kinder und ohne Kinder gibt es auch keine Zukunft.

Am Ende des Interviews erzählt Mara von einem vielversprechenden Projekt:

Trotz dieser tragischen Situation entwickeln die Ausgestoßenen, Verwundbaren und Verachteten dennoch Lösungsansätze. Die Gewerkschaft der Arbeitslosen [4] aus dem Städtchen General Mosconi verteilt das wenige Wasser so gut wie möglich auf die Gemeinden. Darüber hinaus wurde eine Vielzahl von Projekten entwickelt, um irgendwie das Überleben zu sichern - ökologische Gemüsegärten, Viehzucht und die Ziegeleien für den Häuserbau. Da der Staat die indigenen Völker völlig sich selbst überlassen hat, kommt ihnen nun die Gewerkschaft zu Hilfe und bringt Wassertanks in die Dörfer. Sie setzt sich bei der Nationalregierung ein für den Brunnenbau in Rivadavia Banda Norte sowie in den Wichí-Gemeinden in den Regionen San Martín und Orán. Allerdings können aufgrund des Frackings und der Wasserverschmutzung nur an bestimmten Orten Brunnen errichtet werden. Daher wurden für die verschmutzten Gebiete alternative Projekte geplant, wie der Bau von Wohnhäusern und Regenwasser-Auffangbecken, damit es zumindest sauberes Wasser gibt und nicht noch mehr Kinder sterben müssen. Doch bislang wurden diese Projekte noch nicht von der Regierung genehmigt.


Anmerkungen:
[1] https://www.npla.de/thema/arbeit-gesundheit/eine-humanitaere-katastrophe/
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Juan_Manuel_Urtubey
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%BCstenkampagne
[4] http://faccyr.org.ar/union-de-trabajadores-desocupados-utd-mosconi/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/arbeit-gesundheit/die-wichi-trinken-wasser-aus-glyphosat-kanistern/


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https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

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Quelle:
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Herausgeber: Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.
Köpenicker Straße 187/188, 10997 Berlin
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E-Mail: poonal@npla.de
Internet: http://www.npla.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2020

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