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SCHUTZGEBIET/767: Berlin und Brandenburg im europäischen Schutzgebietssystem NATURA 2000 (NATURMAGAZIN)


naturmagazin
Berlin - Brandenburg
Ausgabe 4/2012

Verantwortung übernehmen
Berlin und Brandenburg im europäischen Schutzgebietssystem NATURA 2000

von Frank Zimmermann



Die am 21. Mai 1992 von der Europäischen Union verabschiedete Fauna-Flora-Habitat-(FFH)-Richtlinie ist zusammen mit der Europäischen Vogelschutzrichtlinie Grundlage für das umfassende europäische Schutzgebietssystem NATURA 2000. Doch ist NATURA 2000 wirklich das Naturschutzinstrument, was alles bisher da gewesene revolutioniert? Der Autor möchte aufzeigen, was Brandenburg und Berlin an Besonderheiten in das Schutzgebietssystem einbringen und wo die aktuellen Defizite in der Umsetzung der Richtlinie liegen.


Was soll erreicht werden?

Ziel der FFH-Richlinie ist der europaweite, umfassende Schutz der Arten- und Lebensraumvielfalt. Dies soll durch die Errichtung eines "kohärenten ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete" mit der Bezeichnung NATURA 2000 erreicht werden, in welches auch die EU-Vogelschutzgebiete integriert sind. Um bei der Umsetzung der FFH-Richtlinie die natürlichen Besonderheiten der unterschiedlichen Regionen Europas berücksichtigen zu können, wurde das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft in neun Biogeografische Regionen aufgeteilt. Brandenburg und Berlin gehören zur Kontinentalen Biogeografischen Region, die mit fast 30 Prozent den größten Anteil an der europäischen Landfläche einnimmt. Insgesamt verteilt sie sich auf 13 europäische Mitgliedsstaaten.


Die Listen der zu schützenden Arten und Lebensräume sind lang

In den seit 1992 mehrfach erweiterten Anhängen I und II der FFH-Richtlinie sind sowohl die natürlichen Lebensraumtypen (LRT) als auch die Arten benannt, für deren dauerhafte Sicherung besondere Schutzgebiete zu benennen waren. In weiteren Anhängen wurden Arten aufgelistet, für die der europäische Schutz über ein strenges rechtliches Schutzregime (Anhang IV, streng geschützte Arten nach BNatSchG) bzw. Sammel- und Handelsbeschränkungen (Anhang V) gewährleistet werden soll und die nicht Gegenstand der Gebietsauswahl waren.

Die Liste der LRT des Anhangs I der FFH-Richtlinie umfasst mehr als 300 Lebensräume, von denen in Deutschland knapp 100 und in Brandenburg und Berlin 39 vorkommen. Der Anhang II umfasst knapp über 800 Arten, von denen etwa 120 in Deutschland und 49 in Brandenburg vorkommen. Der Anhang IV der FFH-Richtlinie umfasst für Brandenburg 60 Arten, für die ein strenges Schutzregime gilt.


Besondere Verantwortlichkeit

Zwar waren auch Brandenburg und Berlin verpflichtet, für alle hier vorkommenden FFH-Lebensraumtypen und -Arten ausreichend viele und große Gebiete zu melden. Doch eine ganze Reihe dieser Lebensräume kommt in beiden Ländern nur sehr kleinflächig vor und ist zugleich für den Erhalt im europäischen Maßstab kaum von Bedeutung. Hierzu gehören beispielsweise Orchideen-Buchenwälder (LRT 9150), Fichtenwälder (9410), Pannonische Wälder (91G0), Borstgrasrasen (6230) oder Wacholderheiden (5130). Doch für nahezu die Hälfte der 39 bei uns vorkommenden Lebensraumtypen trägt die Region eine besondere Verantwortung, da sie mit 15 bis 70 Prozent besonders große Flächenanteile am gesamtdeutschen Anteil an der kontinentalen Region für sich beanspruchen. Ganz oben in dieser Liste stehen die LRT 91T0 (Mitteleuropäische Flechten-Kiefernwälder), Lebensräume der offenen Sanddünen (2310, 2330) sowie Sand- und Kontinentale Halbtrockenrasen (6120, 6240) mit Anteilen von knapp 40 bis hin zu 70 Prozent.

Alle diese 19 Lebensraumtypen, für welche die Region Berlin-Brandenburg eine besondere Verantwortung trägt, befinden sich allerdings deutschlandweit in einem ungünstigen Erhaltungszustand (EU-Ampelschema: gelb), der Zustand von fünf von ihnen wird aktuell sogar als schlecht eingestuft (EU-Ampelschema: rot).

Auf Brandenburg bezogen sieht die Bilanz kaum besser aus. Auch wenn es unter den oben genannten Lebensräumen noch eine Reihe recht gut erhaltener Vorkommen in FFH-Gebieten gibt. Es liegt aber auf der Hand, dass für diese Lebensräume hierzulande ein erhöhter Handlungsbedarf besteht, um ihren Erhaltungszustand künftig auch deutschlandweit zu verbessern.


Selten und wertvoll

Im europäischen Kontext entscheiden aber nicht nur Flächenanteile über Bedeutung. So gibt es auch in Brandenburg Lebensräume, deren Prozentsatz am Gesamtbestand der kontinentalen Region Deutschlands zwar gering ist, die aber aufgrund spezieller Ausprägungen mit teilweise anderen kennzeichnenden Arten dennoch von europäischer Bedeutung sind. Dazu zählen die naturnahen Buchenwälder (LRT 9110, 9130), Flüsse mit Schlammbänken (3270) und Pfeifengraswiesen (6410).

Ähnlich sieht es bei zahlreichen Arten des Anhangs II der FFH-Richtlinie aus. Arten wie das Vorblattlose Vermeinkraut kann man in der kontinentalen Region Deutschlands nur noch in Brandenburg schützen. Allerdings ist sein aktueller Erhaltungszustand - sowohl auf Deutschland als auch auf Brandenburg bezogen - äußerst schlecht (EU-Ampelschema: rot), die Zukunftsaussichten sind es ebenfalls. Ähnlich sieht es für die Wasserfalle aus - letzte Nachweise stammen bereits aus der Mitte der 1990er Jahre.

26 Anhang II-Arten - also mehr als die Hälfte der in Brandenburg vorkommenden - sind mit mehr als 15 Prozent überdurchschnittlich stark am gesamtdeutschen Anteil an der kontinentalen Region vertreten, bei acht Arten liegt er sogar bei einem Drittel und mehr. Auch daraus leitet sich eine hohe Verantwortlichkeit des Landes ab, zumal es auch für diese Arten bei deutschlandweiter Bewertung durchweg schlecht aussieht: Jeweils zwölf Arten befinden sich in einem ungünstigen (gelb) oder schlechten (rot) Erhaltungszustand!

Zumindest für fünf Anhang II-Arten Brandenburgs kann allerdings eine deutlich günstigere Bilanz gezogen werden: Die Erhaltungszustände von Rapfen und Weißflossengründling, Großer Feuerfalter, Biber und Zierlicher Tellerschnecke gelten seit den in den Jahren 2000 bis 2006 durchgeführten Pflichtuntersuchungen als günstig, die EU-Ampel steht nun auf "grün".

Wie bei den Lebensräumen entscheidet aber auch bei den Arten nicht allein ihr Anteil über die Bedeutung einer Region. Einige Arten Berlin-Brandenburgs tragen nur zahlenmäßig zwar nur wenig zum gesamtdeutschen Flächenanteil der kontinentalen Region bei, dennoch können sie alleine schon aufgrund ihrer vorgeschobenen Vorpostenvorkommen von Bedeutung für den Erhalt der intraspezifischen Vielfalt im Gesamtareal sein. Die spärlichen Vorkommen von Frauenschuh oder Springfrosch sind Beispiele dafür.


Problem der Bewertung

Was zunächst überraschen mag: Auf Länderebene gibt es keine offiziellen Bewertungen für die Erhaltungszustände von LRT und Arten der FFH-Richtlinie. Der Grund: Allein Deutschland ist als Mitgliedsstaat im Sinne der Richtlinie berichtspflichtig. Alle ostdeutschen Bundesländer und einige weitere Länder haben allerdings solche Bewertungen veröffentlicht und diese zumeist im Internet verfügbar gemacht. Vergleicht man diese Länderbewertungen, fällt allerdings auf, dass die Bewertungen vieler LRT und Arten in einzelnen Bundesländern deutlich kritischer ausfallen als in der gegenüber der EU relevanten bundesweiten Bewertung. In der Mitteilung aller Beurteilungen hat sich dort - auch dank einiger recht "weicher" Eingangsparameter" - wohl einiges aus bundesweiter Sicht "geglättet". Besonders fällt dabei der deutschlandweit überwiegend als günstig eingeschätzte Erhaltungszustand vieler Waldlebensräume ins Auge. Angesichts des vielfältigen Nutzungsdrucks auf unsere naturnahen Wälder und in Anbetracht der derzeit mit Holz zu erzielenden Spitzenpreise ist das durchaus zu hinterfragen.


Das "kohärente" Gebietssystem steht - Was nun?

Brandenburg hat insgesamt 620 FFH-Gebiete mit einem Flächenanteil von etwa 11,3 Prozent des Landes gemeldet. Zusammen mit den 27 EU-Vogelschutzgebieten, die sich teilweise mit FFH-Gebieten überlappen, wurden somit 26 Prozent der Landesfläche in das Schutzgebietssystem NATURA 2000 integriert. Berlin hat 15 FFH-Gebiete gemeldet, die zusammen mit den fünf EU-Vogelschutzgebieten 7,1 Prozent der Landesfläche einnehmen.

Die fortlaufende Umsetzung der FFH- und EU-Vogelschutzrichtlinie hat sich bei den zuständigen Behörden von Bund und Ländern bereits zur fast alles bestimmenden Aufgabe entwickelt. Dies bringt - bei stetig verminderten Kapazitäten - mit sich, dass so manch andere, nicht weniger wichtige fachliche Aufgabe, in den Hintergrund gedrängt wird. Nichts desto trotz: So umfängliche Schutzgebietssysteme, wie sie in Umsetzung von FFH- und Vogelschutzrichtlinie in Deutschland entstanden sind, wären ohne diese "Meilensteine" des europäischen Naturschutzes niemals denkbar gewesen. Und für einige Arten und Lebensräume hat sich das europäische Schutzgebietssystem bereits als nützlich erwiesen, auch wenn mit der Einrichtung des Schutzgebietssystems die Arbeit erst richtig begonnen hat.


Der Handlungsbedarf ist hoch

Momentan wird in allen EU-Mitgliedsstaaten an dem im Jahr 2013 abzuliefernden dritten Bericht gearbeitet. So viel sei vorausgesagt: Zumindest aus Brandenburger Sicht kann keinerlei "Entwarnung" gegeben werden. Der Erhaltungszustand der Arten und Lebensräume hat sich fast durchweg nicht verbessert, und wie die parallel erarbeiteten Analysen zur Biodiversität im Land ergeben, steht es um so manchen Lebensraum und manche Art eher schlechter als im vorherigen Berichtszeitraum.

Daran werden auch die zahlreichen Untersuchungen, die sich aus dem angelaufenen bundesweiten Stichproben-Monitoring ergeben, nichts ändern. Zu vielfältig sind die negativen Auswirkungen der gegenwärtig zu verzeichnenden Nutzungsintensivierung und Umgestaltung unserer Landschaften. Zu vielfältig und praktisch nicht zu leisten - geschweige denn finanzierbar - sind die zahllosen Maßnahmen, die über die bereits laufenden hinaus ergriffen oder konzipiert werden müssten.

Dabei wird ein entscheidendes Defizit der in ihren Regelungen so umfangreichen und kaum zu überschauenden FFH-Richtlinie deutlich: Während der Prozess der Gebietsauswahl seitens der EU noch sehr kritisch betrieben wurde, ist die Kommission mit der Fülle der zu verarbeitenden Informationen aus den unendlich vielen europäischen Schutzgebieten der 27 Mitgliedsstaaten schlicht überfordert. Während die Erstellung von Managementplänen als (fakultative!) Aufgabe der FFH-Richtlinie noch durch europäische Mittel unterstützt wird, fehlt es völlig an spezifischen Finanzierungsinstrumenten für die flächendeckende Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung des Erhaltungszustandes von Arten und Lebensräumen. Mittlerweile stehen hierfür in vielen Bundesländern Deutschlands fast ausschließlich Agrar-Umweltprogramme zur Verfügung. Bislang konnten sie jedoch nicht die optimalen Bedingungen für das Erreichen naturschutzfachlicher Ziele bieten. Die Finanzierungsinstrumente LIFE oder LIFE+ sind da nur "Tropfen auf den heißen Stein", die regional und zeitlich begrenzt einzelnen Arten oder Lebensräumen zu Gute kommen.

Es bleibt zu hoffen, dass die EU in Umsetzung der FFH-Richtlinie weitere "Meilensteine" setzt. Solche, die die Verbesserung des Erhaltungszustandes von Arten und Lebensräumen deutlich (und notfalls schmerzlich) einfordern. Solche, die die längst überfällige Neuorientierung der bisherigen Agrar-Umweltprogramme auf den Weg bringen, und solche, die den Mitgliedsstaaten gestatten, finanziell und personell abgesichert am gemeinsamen Ziel zu arbeiten - dem umfassenden Schutz der Arten- und Lebensraumvielfalt in Europa.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Feldsölle wie dieser in der Nähe von Parstein im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin sind FFH-Lebensraumtyp und zugleich Habitat verschiedener FFH-Arten.

- Um trockene Sandheiden dauerhaft zu erhalten, ist eine angepasste Pflege erforderlich. Die hohe Munitionsbelastung auf vielen Truppenübungsplätzen, als Hauptvorkommensgebiet des Lebensraumes, ist dabei oft hinderlich.

- Kontinentale Steppenrasen (LRT 6240) - hier in den Stettiner Bergen am Rand des unteren Odertals - gehören zu den artenreichsten FFH-Lebensräumen.

- Den Frauenschuh kann man sicher in anderen Regionen Deutschlands besser schützen, dennoch ist das einzige Vorkommen im Nordosten von arealgeografischer Bedeutung.

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Quelle:
NATURMAGAZIN, Nr. 4, November 2012 bis Januar 2013
Herausgeber:
Naturschutzzentrum Ökowerk Berlin
Naturschutzbund Deutschland (NABU) e.V., Landesverband Brandenburg
Natur & Text in Brandenburg GmbH
Redaktion:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juli 2013