Schattenblick →INFOPOOL →UMWELT → MEINUNGEN

LAIRE/060: Australische Geheimexperimente mit Agent Orange (SB)


Australisches Militär führte in den sechziger Jahren ohne Wissen der Bevölkerung Chemiewaffen-Experimente durch


Eigentlich sollte die Bevölkerung eines Landes durch seine Armee beschützt werden. So lautete zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt in der Entwicklungsgeschichte der arbeitsteiligen Gesellschaft der Auftrag von Soldaten. Wozu sonst sollte eine Lebensgemeinschaft Kräfte von der produktiven Arbeit, beispielsweise in der Landwirtschaft oder im Handwerk, befreien und ausschließlich zu Wach- und Verteidigungsaufgaben abstellen?

Diese frühe Phase der Zivilisationsgeschichte des Menschen gerät allerdings zusehends in Vergessenheit. Die Aufgabe des Militärs besteht schon lange nicht mehr im Schutz der Bevölkerung, sondern des Staates beziehungsweise in der Verteidigung der vorherrschenden Ordnung - auch gegen die eigene Bevölkerung. Das heutige Gesellschaftssystem hat eine Komplexität erlangt, die den Blick auf seinen Ursprung fast völlig verstellt, was wiederum leicht als ihre Funktion zu identifizieren ist. Wenn sich heutzutage ein Militärapparat gegen die eigene Bevölkerung wendet, dann wird nicht das Militär an sich hinterfragt, sondern bestenfalls dessen "Auswüchse". Wahrscheinlich besaßen unsere frühen Vorfahren bessere Chancen, eine andere Entwicklung, die ohne Militär ausgekommen wäre, einzuschlagen, als sie irgendwann erkannt haben dürften, wie sich Herrschaftsstrukturen etablierten, aber heute existiert anscheinend nicht einmal eine Vorstellung davon, wie solch eine Lebensform aussehen könnte.

Einer dieser vermeintlichen Auswüchse des Militärs wird zur Zeit in Australien aufgerollt. Dort, an der Nordostküste des Bundesstaats Queensland, wurden zu Beginn des von den USA angeführten Kriegs gegen Nordvietnam Entlaubungsmittel wie das berüchtigte Agent Orange erprobt. Bis heute hat sich ein Waldgebiet in der Nähe der Stadt Innisfail nicht mehr von den Experimenten mit der dioxinhaltigen Chemikalie erholt, wie australische Medien vergangene Woche berichteten [1]. Die Premierministerin von Queensland Anna Bligh sah sich gezwungen, vor die Presse zu treten und zu erklären, daß sie den Fall der Bundesregierung in Canberra vorlegen werde. Einwohner aus Innisfail, die sich krank fühlten, sollten sich bei der örtlichen Umweltbehörde melden, man werde den Fällen nachgehen.

Australische Wissenschaftler hatten 1966 im Auftrag des Militärs auf einem bewaldeten Bergrücken in der Nähe dieses Städtchens Entlaubungsmittel versprüht, nur rund einhundert Meter oberhalb des Johnstone-Flusses, aus dem die Bewohner ihr Trinkwasser bezogen. Innisfails Bürgermeister Bill Shannon erklärte, daß das Wasser keine Spuren solcher Chemikalien enthalte, aber ungeachtet dessen werde er eine Untersuchung der Vorfälle einleiten, da er wissen wolle, in welchen Mengen und unter welchen Umständen das Umweltgift versprüht wurde [2].

Ein Vertreter des Gesundheitsministeriums von Queensland behauptete, daß es keine vermehrten Krebsfälle in Innisfail gibt, doch wußte die australische Presse etwas anderes zu berichten. Zumindest belegen die behördlichen Gesundheitsdaten, daß im Jahr 2005 von den fast 12.000 Einwohnern der Stadt 76 an Krebs verstorben waren. Das sei zehnmal so viel wie im Durchschnitt von Queensland und noch immer viermal so viel wie im australischen Durchschnitt, hieß es.

Allerdings verweisen die Gesundheitsbehörden von Queensland darauf, daß die Krebsrate von Innisfail nur 0,1 Prozent höher liegt als der Durchschnitt, wenn man den längeren Zeitraum 1991 bis 2005 betrachtet [3] - ein gewichtiges Argument, das nicht einfach zu entkräften sein dürfte, wie zahllose andere Beispiele weltweit, in denen Mißstände anhand von Umweltstatistiken belegt werden sollen, gezeigt haben.

Die 83jährige Wissenschaftlerin Jean Williams, die einst den Einfluß von Chemikalien auf Vietnamkriegsveteranen untersucht hat und dafür mit der "Order of Australia Medal" ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber "Fairfax", daß sie in den Archiven des Australian War Memorial gesucht und fündig geworden sei. Sie habe entdeckt, daß Militärwissenschaftler zwischen 1964 und 1966 geheime Sprühversuche in Gregory Falls nahe Innisfail durchgeführt hatten. Aus den von ihr gefundenen drei Kartons mit Akten sei eine Akte als "considered sensitive", also als sensibel ausgewiesen worden.

Die Dokumente zeigen, daß Militärforscher damals die Chemikalien 2,4-D, Diquat, Tordon und DMSO (diemthyl sulphoxide) versprühten. Die Forscher hätten die Substanzen zusammengemischt, deshalb wurde die Akte als "sensibel" bezeichnet, erklärte Williams. Alle verwendeten Substanzen seien krebserzeugend. Eine Akte, die möglicherweise Angaben zu weiteren Tests in einem Projekt namens "Operation Desert" enthalte, werde vermißt. Dies wird vom Leiter des Australian War Memorial Steve Gower bestätigt. Die Informationen seien als "zu beunruhigend, um sie jemals freizugeben", bezeichnet worden, so Williams, die klipp und klar erklärt, daß die Mixtur an "üblen Chemikalien" die Lage verschlimmert und "all die Krebsfälle" ausgelöst hat [4].

Australien und Großbritannien hatten 1962 ein Militärforschungsteam in Innisfail gegründet. Als Gerüchte über chemische Experimente aufkamen, meldete sich 1969 der australische Verteidigungsminister Allen Fairhall von der Partei der Liberalen zu Wort und behauptete, daß jene Einheit in Innisfail keine Experimente mit Chemiewaffen betrieben hat.

Dem widerspricht der 86jährige Ted Bosworth, ein Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg. Er hat in Neu Guinea gekämpft und bekam während des Koreakriegs einen Lungenschuß ab. Während des Vietnamkriegs gehörte er zur Reserve der Armee. Heute berichtet er, daß er 1966 zwei Forscher zu jener Stelle gefahren habe, an der die Chemieversuche durchgeführt wurden. Es habe sich um einen englischen und einen australischen Wissenschaftler gehandelt, beide sollen später an Krebs verstorben sein, so Bosworth gegenüber dem "Herald Sun": "Sie sprühten mit der Hand. Der Wald ging binnen Tagen ein. Nach drei Wochen waren alle Blätter weg. Die Forscher haben stets geleugnet, daß es sich um Agent Orange handelt. Sie waren wirklich vorsichtig." [4] In dem besagten Testgebiet wachsen bis heute lediglich Gräser, während das Umland von einem dichten Dschungel besetzt ist.

Möglicherweise läßt es sich in einigen Fällen nicht mehr unterscheiden, ob eine Person in Innisfail oder in Vietnam kontaminiert wurde. Ein Beispiel dafür ist der Vietnamkriegsveteran Reg Hamann. Er wurde in Vietnam Agent Orange ausgesetzt und leidet heute unter mehreren Krebsarten (Speiseröhre und Magen), hat eine Herzattacke überstanden und lebt mit einem vierfachen Bypass. Sein Sohn wurde mit einer deformierten Lunge geboren, und seine Tochter hat die gleichen Hautprobleme, wie sie sich der Vietnamkriegsveteran durch Agent Orange eingehandelt hatte. Inzwischen zeigen sich die Symptome auch bei den Enkelkindern.

Viele Kinder in Innisfail litten unter ähnlichen Krankheiten, und zwar bereits seit 1970, als er in diese Region gezogen sei, erklärte Hamann, der örtlicher Vorsitzender der Veteranenvereinigung RSL (Return Servicemen's League) ist. Deshalb könnten die Krankheiten nicht auf die Chemikalien, mit denen erst seit 15 Jahren die Bananen in der Umgebung besprüht werden, abgeschoben werden, versucht er vorsorglich ein mögliches Argument, mit dem die Chemiewaffenversuche relativiert werden könnten, zu entkräften.

Selbst wenn die Einwohner von Innisfail den Nachweis einer Chemikalienverseuchung aus dem sechziger Jahren nicht erbringen könnten, änderte das nichts daran, daß das eigene Militär ihre Grundwasserversorgung mindestens hochgradig gefährdet hat. Deshalb sollte den statistischen Daten gar nicht so viel Gewicht beigemessen werden, denn sie erlauben keine gesicherte Aussage über Krebsursachen, wie anhand folgender Überlegung nachvollziehbar wird: Wie oben erwähnt liegt die Krebsrate von Innisfail laut der Gesundheitsbehörde von Queensland nur 0,1 Prozent über dem Durchschnitt des Bundesstaats. Statistisch scheint somit kein Grund zur Beunruhigung zu bestehen. Aber niemand vermag zu sagen, ob die Krebsrate heute nicht möglicherweise um vieles niedriger läge, wenn die Einwohner keinen Unweltgiften ausgesetzt worden wären. Vielleicht haben die Bewohner bis zum Zeitpunkt der Dioxinvergiftung äußerst gesund gelebt und ihr Krankheitsniveau wurde erst durch die Chemiewaffen-Experimente auf den Landesdurchschnitt angehoben.

Zudem muß bei der Bewertung solcher Statistiken bedacht werden, daß sie jede "Schweinerei" im Datensatz absorbieren und unkenntlich machen. In diesem Fall dürften die oberirdischen Nuklearversuche, die unter anderem in der australischen Wüste durchgeführt wurden, eine Häufung von Krebsfällen bewirkt haben, was zu einem Anstieg der Krebsrate führte. Nun wird jedoch behauptet, daß die Bewohner Innisfails verglichen mit dem Durchschnitt der Bewohner Queensland gar nicht auffällig häufig an Krebs erkrankt sind. Daß das allgemeine Krankheitsniveau bereits durch diverse Umweltverseuchungen insgesamt angehoben wurde, wird dabei nicht berücksichtigt.

Wissenschaft arbeitet mit Statistiken, aber Statistiken sind abstrakt und verschleiern prinzipiell die Einzelereignisse. Insofern sollte die subjekte, "unwissenschaftliche" Aussage der 74jährigen Val Robertson aus Innisfail nicht unerwähnt bleiben. Ihr zufolge sterben viele Einwohner in ihren Vierzigern an Krebs, und zwar seit einem Jahr ungefähr jeden Monat einer. Das sei eine Menge für eine so kleine Stadt, meinte Robertson [4].

Der tropische Regenwald von Nordqueensland ist hinsichtlich Menge und Dauer des Einsatzes von Entlaubungsmitteln sicherlich ein "Nebenkriegsschauplatz" verglichen mit den schätzungsweise 72 Millionen Litern Agent Orange und anderen toxischen Chemikalien, die von US-Kriegsflugzeugen aus über Vietnam versprüht wurden und eine gesundheitszerstörende Erblast hinterlassen haben, die offensichtlich über viele Generationen nicht abgebaut wird. Dennoch zeigt dieses Beispiel recht deutlich das Gewaltverhältnis, das zwischen Militär und Zivilbevölkerung besteht und sicherlich nicht auf Australien beschränkt ist.


*


Anmerkungen:

[1] http://www.news.com.au/heraldsun/story/0,21985,23716687 -5005961,00.html

[2] http://afp.google.com/article/ALeqM5iPvgfE3j90UqY7MgbMpwuj1Ypecw

[3] http://www.southeastasiantimes.com/

[4] http://www.smh.com.au/articles/2008/05/18/1210765247617.html

20. Mai 2008