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STANDPUNKT/317: EU-"Stresstest" verharmlost die Gefahren der Atomenergie (.ausgestrahlt)


.ausgestrahlt / gemeinsam gegen atomenergie - Rundbrief 18 / Herbst 2012

Nur die Spitze des Eisbergs

von Jochen Stay



Der EU-"Stresstest" verharmlost die Gefahren der Atomenergie. Trotz großer Sicherheitsmängel wird kein AKW stillgelegt. Umweltminister hält Nachrüstungen für unnötig

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hat umfassende Änderungen für die Hauptuntersuchung von Kraftfahrzeugen angekündigt: Zukünftig reicht es aus, wenn die Autobesitzer dem TÜV einen Fragebogen ausfüllen, in dem allerdings sicherheitsrelevante Bereiche wie die Bremsen oder die Beleuchtung gar nicht vorkommen. Abgefragt wird lediglich, ob Sicherheitsgurte vorhanden sind. Stichprobenartig kann der TÜV Prüfer zu den Fahrzeughaltern schicken, um die Angaben zu kontrollieren. Aber auch diese überprüfen nicht, ob die Gurte funktionieren, sondern nur, ob sie vorhanden sind. Falls sie fehlen, kann der TÜV nicht anordnen, diese einzubauen, sondern es nur empfehlen. Und es kommt auf das Alter des Autos an, ob noch nachgerüstet werden soll, oder ob dies für den Halter eine unzumutbare finanzielle Belastung darstellt. In diesem Fall kann er auch noch ein paar Jahre einfach so weiterfahren.

Natürlich ist diese Geschichte von vorne bis hinten erfunden. Ramsauer würde mit so einem Vorschlag niemals durchkommen, weil völlig klar ist, dass dieses Vorgehen die Verkehrssicherheit gefährden und zu unzähligen Unfallopfern führen würde. Anders verhält es sich dagegen in der Atomtechnik. Der Anfang Oktober von EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) vorgestellte "Stresstest" für Atomkraftwerke funktioniert genau nach den eben beschriebenen Spielregeln: Die Angaben Angaben stammen von den AKW-Betreibern selbst. Überprüft wurde nicht, ob wesentliche Sicherheitseinrichtungen funktionieren, ob es Risse im Reaktordruckbehälter gibt oder das Kraftwerk gegen Flugzeugabstürze ausgelegt ist, sondern nur, ob bestimmte Notmaßnahmen greifen, wenn der Störfall schon da ist. Nur einzelne Anlagen wurden von Prüfern besucht - allerdings nur kurz und ohne zu testen, ob die Technik wirklich funktioniert.

Altmaier gegen Nachrüstungen

Trotzdem traten reihenweise Mängel zutage, die aber, so viel ist bei dem gewählten Verfahren klar, nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Die allermeisten Sicherheitsdefizite kommen im EU-Stresstest überhaupt nicht vor. Anders ausgedrückt: Wenn schon ein so lascher Test solche Mängel offenbart, dann sollte die Bevölkerung Europas alarmiert sein.
Wer nun denkt, dass die mangelhaften Atomkraftwerke stillgelegt würden oder zumindest so lange abgeschaltet, bis entsprechende Sicherheitstechnik nachgerüstet ist, der täuscht sich gewaltig. Die EU hat nicht die Macht, Nachrüstungen zu verlangen. Das können nur die nationalen Aufsichtsbehörden - wenn sie denn wollen. Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) hat sofort klargestellt, dass Nachrüstungen bei AKWs, die in drei bis zehn Jahren vom Netz gehen sollen, aus seiner Sicht nicht mehr nötig sind: Es sei "wenig vermittelbar, wenn Deutschland jetzt noch stark nachrüstet und Frankreich nicht, obwohl die Atomkraftwerke dort noch 20 Jahre in Betrieb sind."
Wir kennen das aus der Geschichte des AKW Biblis: Nachdem es dort im Jahr 1987 zu einem Beinahe-GAU gekommen war, erließ der damalige hessische Umweltminister Karlheinz Weimar (CDU) zwar 49 Nachrüstungs-Auflagen. Doch bis zur Stilllegung von Biblis im Jahr 2011 hatte der Betreiber RWE mit Billigung der hessischen Atomaufsicht nur etwa die Hälfte davon umgesetzt. In manchen europäischen Reaktoren sind bis heute die Nachrüstungen nicht erfolgt, die nach der Teil-Kernschmelze 1979 im US-AKW Harrisburg empfohlen worden waren.

Wie hätte Fukushima abgeschnitten?

Tero Varjoranta, Vorsitzender der EU-Arbeitsgruppe für nukleare Sicherheit (Ensreg), die den Stresstest durchgeführt hat, regte vor dessen Veröffentlichung in einer Stellungnahme an, die EU-Kommission solle die Ergebnisse "so sorgfältig formulieren und präsentieren, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit nicht untergraben wird" und "hervorheben, dass im Ergebnis des Stresstests keines der europäischen AKWs aus Sicherheitsgründen abgeschaltet oder geschlossen werden müsste".
Oettinger tat dann auch bei der Vorstellung seines Berichts alles, um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Er sprach nicht von "Handlungsbedarf", sondern von "Handlungspotenzial", nicht von "Nachrüstungsnotwendigkeiten" sondern von "Nachrüstungsmöglichkeiten". George Orwell nannte so etwas in seinem Roman 1984 "Neusprech".
Übrigens: Wäre das AKW Fukushima vor zwei Jahren nach den Kriterien des EU-Stresstests überprüft worden, dann wäre es nicht stillgelegt worden, sondern die Behörden hätten lediglich Nachrüstungsempfehlungen gegeben - natürlich ohne Frist zu deren Umsetzung.

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Quelle:
Rundbrief 18, Herbst 2012, Seite 2
Herausgeber: .ausgestrahlt
Marienthaler Straße 35, 20535 Hamburg
E-Mail: info@ausgestrahlt.de
Internet: www.ausgestrahlt.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2012