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STANDPUNKT/1164: Atomkraft bringt's nicht - Neue oder länger laufende AKWs schaden dem Klima mehr als sie nützen (Gorleben Rundschau)


Gorleben Rundschau I-II/2020 - 43. Jahrgang, Ausgabe 1073
Wir sind die Wenden: Energie · Klima · Mobilität · Gesellschaft

Atomkraft - quo vadis?
Atomkraft bringt's nicht!
Neue oder länger laufende AKWs schaden dem Klima mehr als sie nützen

von Andreas Conradt


Pro & Kontra
Seit gut einem Jahr ist eine Debatte über den Wiedereinstieg Deutschlands in die Atomkraft, wenigstens aber eine Laufzeitverlängerung der noch betriebenen Meiler unüberhörbar. Konservative Kreise missbrauchen die Klimadebatte und die Notwendigkeit, den Ausstoß des schädlichen Kohlendioxids zu reduzieren. Doch wohin auch immer sich die Debatte um eine Renaissance der Atomkraft in den nächsten Monaten bewegen wird: Der wehmütige Blick der Atom-Befürworter zurück auf Zeiten, in denen in Deutschland knapp zwanzig Atomkraftwerke am Netz waren, wird unzulässig sein. Ein Abwägen der Pros und Cons der Kernkraft ist nur im Hier und Jetzt, nur vor dem Hintergrund des Status Quo zielführend. Andreas Conradt gibt den Pros ordentlich Kontra.


Atomkraft macht Strom günstiger. Oder?

Befürworter eines neuerlichen "Zurück zum Atom" wie der CDU-Politiker Michael Fuchs stellen den Verbraucher/-innen eine deutlich niedrigere Stromrechnung in Aussicht, wenn AKWs länger als bis 2022 betrieben werden dürften. Mit Belegen für ihre These der billigen Stromerzeugung sind die Befürworter allerdings meist zurückhaltend ...

Ganz anders Professor Jürgen Karl, Leiter des Lehrstuhls für Energieverfahrenstechnik an der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg. Mit einem Team von Wissenschaftlern hat er errechnet, dass die Energiewende schon deshalb Geld spart, weil jede andere Alternative noch teurer bezahlt werden müsste. Gas-, Kohle- und Atomkraftwerke sind heute fast alle am Ende ihrer Lebensdauer und müssten langwierig und teuer durch neue Anlagen ersetzt werden. Die Fortführung der begonnenen Energiewende sei, so Prof. Karl, die deutlich günstigere Variante.

Ohne Windkraft und Photovoltaik hätte der Strom in den Jahren 2011 bis 2018 etwa 70 Milliarden Euro mehr gekostet.

Und auch das Massachusetts Institute of Technology (MIT) sieht die Herstellungskosten durch die Kernkraft (heute: 10 Cent pro kWh) steigend, während sie für Windstrom (4 Cent) und Strom aus Photovoltaik (7 Cent) kontinuierlich sinken.

Lukas Köhler, klimapolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, bringt es auf den Punkt: "Die Diskussion um Atomkraft poppt immer wieder auf. Aber marktwirtschaftlich ist Atomkraft heute undenkbar." Möglich wäre der Wiedereinstieg nur, wenn der Staat mit großem Engagement subventionieren würde.

So geschehen in England: Ein dort neu entstehendes AKW wird vom britischen Steuerzahler mit insgesamt rund 100 Milliarden Euro bezuschusst.

Das Verhandlungsteam des Europäischen Parlaments hat indessen bei den Gesprächen um die Klassifizierung nachhaltiger Investments die Hürde dafür, dass die Nutzung der Atomkraft als nachhaltig angesehen und damit auch mit Fördermitteln rechnen könnte, sehr hoch angelegt. Nach Einschätzung von Experten so hoch, dass dieser Energieträger faktisch die Hürde reißt.

Mit Atomkraft erreichen wir die Klimaziele. Oder?

Selbst wenn man dem Argument der AKW-Befürworter folgen möchte, dass die Nutzung der Kernenergie "weitgehend CO2-frei" ist, wird man bei weiterer Betrachtung feststellen, dass ein vollständiges Ersetzen der weltweit für Stromerzeugung, Heizung, Mobilität und Industrie ("Primärenergie") eingesetzten fossilen Brennstoffe durch die Atomkraft gar nicht möglich ist. Rund achtzig Prozent dieser Primärenergie werden heute aus fossilen Ressourcen gewonnen, nur vier Prozent in Kernkraftwerken. Würde man die Primärenergie aus Atomkraft gewinnen wollen, müsste die Zahl der weltweit betriebenen AKWs mit 20 multipliziert werden. Zusätzlich zu den aktuell laufenden rund 440 Reaktoren müssten also weitere 8800 Kernkraftwerke gebaut werden. Und das in kürzester Zeit, denn Klimaforschern zufolge bleiben für die Abwendung des Point of no Return des Klimawandels weniger als zehn Jahre.

Und selbst wenn es gelänge: Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) reichen die weltweiten Uranvorkommen für die derzeit eingesetzten Reaktortypen noch für 130 Jahre - bei der heutigen Zahl von Kernkraftwerken. Bei einer um den Faktor 20 erhöhten Zahl von Reaktoren, reicht der Brennstoff gerade mal für sechs bis sieben Jahre ...

Neue Reaktoren sind sicherer und sparsamer. Oder?

Die Aussage der OECD bezieht sich auf das in heutigen Reaktoren eingesetzte Uran-235. Firmen wie Bill Gates' Terrapower erforschen darum den so genannten Laufwellenreaktor (travelling-wave reactor, TWR), in dem - neben einer kleinen Menge angereichertem Uran-235 als "Anlasser" - das viel häufiger vorkommende abgereicherte Uran-238, Natururan oder abgebrannte Brennelemente aus herkömmlichen Reaktoren eingesetzt werden können. Allerdings ist der Entwicklungsstand von Laufwellenreaktoren heute an einem ähnlichem Punkt wie der der Kernfusion: Theoretisch und auf Bill Gates' Super-Computern funktioniert das schon in den 1950er-Jahren erdachte Prinzip. Es gibt aber bis heute keinen existierenden Prototypen eines TWR. Professor Harald Lesch von der Ludwig-Maximilians-Universität München schätzt, dass beide Technologien noch mindestens 20 Jahre Forschung und Entwicklung benötigen, um sie zur Marktreife zu entwickeln - Scheitern nicht ausgeschlossen. Bei einem Zeitfenster von nur zehn Jahren bis zum Point of no Return ist das für die Rettung des Klimas zu lang.

Ein wenig aus der Zeit gefallen erscheint der Reaktortyp auch deshalb, weil er schwer regelbar und damit vorrangig zur Erzeugung von Grundlaststrom vorgesehen ist. TWR eignen sich kaum als Ergänzung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien.

In den TWR kann zudem aus physikalischen Gründen kein Wasser zur Kühlung und Moderation ("Steuerung") verwendet werden. Mit dem stattdessen eingesetzten flüssigen Natrium wiederum kann die Moderation des Reaktors nicht automatisch laufen, sondern muss permanent vom Personal geregelt und überwacht werden. Diese tausendfache potenzielle Störquelle könnte im schlimmsten Fall zu verheerenden Natriumbränden führen, die praktisch unbeherrschbar wären. Und apropos: Dass als Abfallprodukt der Laufwellenreaktoren waffenfähiges Plutonium entsteht, darf wohl zusätzlich als beunruhigend gelten.

Kleine Reaktoren sind eine Innovation. Oder?

Für die häufig fragilen Stromnetze in den Ländern Afrikas und in Schwellenländern wie Indien oder den Staaten Südamerikas wäre der Bau einiger weniger, dafür aber großer und leistungsfähiger Atomreaktoren eine viel zu große Belastung. Häufige Stromausfälle wären die Folge - ein Bärendienst für die Menschen. An anderen Orten - Sibirien zum Beispiel - ist der Bau großer Anlagen logistisch gar nicht möglich. Um diesen Besonderheiten Rechnung zu tragen, aber auch, um der Atomkraft in den Industrienationen einen freundlicheren Anstrich zu geben, werden derzeit von Firmen wie Rolls-Royce so genannte Kleine Modulare Reaktoren entwickelt (small modular reactors, SMR). Dabei handelt es sich nicht um neue Reaktortypen, sondern um die Konfiguration bestehender Systeme wie dem Leichtwasserreaktor, mit dem weltweit etwa 90 Prozent aller Kernenergie produziert wird (in Deutschland 100 Prozent), und dem TWR oder anderer Typen der 4. Generation von AKWs. Die Gefahren und Probleme der Leichtwasserreaktoren und beispielsweise des TWR werden durch die Verkleinerung und "Verpackung" als SMR nicht verringert.

Neue Reaktoren reduzieren den Atommüll. Oder?

Die von Firmen wie Terrapower behauptete Möglichkeit der Nutzung alter Brennelemente für den Betrieb von Laufwellenreaktoren sorgt immer wieder für die Fantasie, dass TWR Atommüll "fressen" und unschädlich machen und die schiere Menge der hochradioaktiven Abfälle reduzieren können. Der Chemiker und Nulearexperte Michael Sailer sieht das anders: "Das wird von den Proponenten wider besseres Wissen behauptet. Der Großteil der erzeugten Energie entsteht durch Kernspaltung. Damit ist untrennbar die Produktion von radioaktiven Spalt- und Aktivierungsprodukten verbunden, die im vorgeschlagenen Reaktorprozess nur in kleinerem Umfang wieder 'verbrannt' werden. Es bleibt also eine Menge Atommüll."

Schon heute entstehen weltweit rund 8300 Tonnen hochradioaktiven Abfalls (high active waste, HAW) jedes Jahr. Und das, obwohl es bis heute kein einziges Lager für den Strahlenmüll gibt. Auch die Schweden und Finnen sind längst nicht so weit, wie dies vielfach kolportiert wird. Würde, wie eingangs erwähnt, die gesamte Produktion aus fossilen Ressourcen auf Atomkraft umgestellt werden, würden jedes Jahr 166.000 Tonnen HAW entstehen - eine schwere Bürde für die folgenden Generationen.

Neue AKW sparen CO2. Oder?

Die Klimabilanz eines AKW nachzuweisen ist eine schwierige Angelegenheit. Zwar wird im regulären Betrieb praktisch kein CO2 erzeugt, der Ausstoß in der Kette aus Uranabbau und -anreicherung, Brennelementherstellung und -entsorgung und aus vielen Transporten über große Entfernungen ist aber, wenn auch kaum zu beziffern, durchaus erheblich. Genaugenommen ist der Nachweis aber auch gar nicht (mehr) nötig:

Um den weltweiten CO2-Ausstoß auf ein Niveau zu reduzieren, das ein Einhalten der 1,5- oder wenigstens der 2-Grad-Grenze ermöglicht, müssten in den nächsten wenigen Jahren tausende Atomkraftwerke errichtet werden - inklusive Genehmigungsverfahren, Planung und Bau. Ein völlig unrealistisches Unterfangen, nimmt man die zwei europäischen Neubauten in Finnland und England zum Maßstab: Die Ausschreibung für den Bau des dritten Blocks des AKW Olkiluoto in Finnland begann 2003. Nach diversen Verzögerungen mit Nennung immer neuer Fertigstellungstermine rechnet der Betreiber Teollisuuden Voima OYJ (TVO) derzeit mit einem Beginn der kommerziellen Nutzung im Frühjahr 2021. In Olkiluoto war übrigens auch noch ein vierter Block geplant, doch die finnische Regierung lehnte im September 2014 eine vom Betreiber beantragte Fristverlängerung ab. Grund: TVO könne nicht garantieren, dass der vierte Reaktor jemals fertiggestellt wird ... Ein ähnliches Bild ergibt sich beim im Bau befindlichen dritten Block (Block "C") des AKW Hinkley Point in England: Entscheidung im britischen Parlament im Jahr 2008, Baubeginn 2018, vorgesehene Inbetriebnahme 2025, Gesamtdauer mindestens 17 Jahre.

Die Lehre aus Finnland und England? Knapp 20 Jahre - ohne die Zeit für ein Genehmigungsverfahren und ohne nennenswerte Proteste - sind zu lang, um als Ersatz für fossile Kraftwerke dienen zu können.

Andere Länder setzen auf Atomkraft. Oder?

Im Jahr 2019 ging die weltweit nuklear erzeugte Menge an Atomstrom im Vergleich zum Vorjahr leicht zurück. Sechs neue Reaktoren gingen ans Netz, neun wurden abgeschaltet. Alle neu in Betrieb genommenen Kraftwerke stehen in Staaten, in denen Protest unschicklich, gefährlich oder gänzlich unmöglich ist: Südkorea, Russland, China. Von einer bereits begonnenen Renaissance der Atomkraft kann also keine Rede sein.

Ohne AKWs müssen wir Atomstrom importieren. Oder?

Dass Deutschland nach dem Abschalten aller AKWs in zwei Jahren eine Stromlücke droht, ist ein gern verwendetes Horrorszenario der Atomindustrie. Laut Bundesumweltministerium produziert Deutschland allerdings Strom im Überfluss: Von den gut 610 Terawattstunden (TWh) Strom, die 2019 brutto in Deutschland produziert wurden (davon 75 TWh mittels Atomkraft), wurden im Inland lediglich gut 570 TWh verbraucht - knapp 40 TWh wurden als Überschuss exportiert. Das liegt in erster Linie am niedrigen Strompreis in Deutschland aufgrund bestehender Überkapazitäten und der zunehmenden Einspeisung aus erneuerbaren Energien.

Wir haben derzeit eine gesicherte Kraftwerksleistung von weit über 100 Gigawatt. Damit stehen selbst bei vollständigem Atomausstieg ausreichende Erzeugungskapazitäten zur Verfügung, um sicher die Maximallast von gut 80 Gigawatt in Deutschland bedienen zu können.

Fazit

Im Rahmen der Klimadebatte werden neue Atomkraftwerke als Lösung für die Dekarbonisierung unserer Energieversorgung ins Spiel gebracht. Die Schweizerische Energie-Stiftung hat in einer Kurzstudie deren Realisierbarkeit untersucht und herausgefunden: Neue AKW sind sowohl hinsichtlich Zeit- als auch Kapitalbedarf und Finanzierung nicht realistisch und weisen klare Nachteile gegenüber erneuerbaren Energien wie der Photovoltaik auf.

Der Bau neuer AKW ist nicht nur nicht finanzierbar, er dauert auch mindestens zwei Jahrzehnte und bürdet involvierten Konzernen, dem Staat und den Steuerzahler/-innen ein großes finanzielles Risiko auf. Zudem verhindern neue AKW die erfolgreiche und rasche Etablierung der erneuerbaren Energien. Die Kurzstudie vergleicht den Bau eines neuen AKW mit dem Ausbau einer äquivalenten Produktionskapazität mittels Photovoltaik-Anlagen und kommt zum Schluss, dass zweiteres schneller, risikoärmer, mit geringeren staatlichen Mitteln und im Rahmen der von der Bevölkerung befürworteten Energiestrategie erfolgen könnte.

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Quelle:
Gorleben Rundschau - I-II/2020 - Januar, Februar 2020, Seite 16 - 18
Lizenz: CC BY NC SA
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2020

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