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KLIMA/387: Plötzlich auftretende Anomalien im Atlantik (SB)


Vorübergehend außergewöhnlicher Meeresspiegelanstieg an der gesamten US-Ostküste

Kälteanomalie im Nordatlantik


Der Nordatlantik wird in einem geografisch begrenzten Bereich kälter, der Golfstrom schwächt sich ab, und im Juni war der Meeresspiegel an der gesamten US-Ostküste, von Maine bis Florida, sprunghaft um 30 bis 60 Zentimeter über dem Normalwert gestiegen. [1] Wissenschaftler warten mit ratlos wirkenden Erklärungen auf, wie es zu diesen zwar nicht einzigartigen, aber doch außergewöhnlichen Effekten kommen konnte.

Berichten zufolge sank die Temperatur in der nordatlantischen Hauptströmung des mehrfach geteilten Golfstroms seit Juni um drei Grad Celsius unter den Durchschnitt. Angesichts der Trägheit, mit der normalerweise die Wassertemperaturen den Jahreszeiten folgen, und der geringen Schwankungsbreite der Temperatur kommt diese starke Veränderung überraschend.

Eine Abkühlung könnte bedeuten, daß der Golfstrom schwächer wird oder gar daß er versiegt (befristet oder dauerhaft) und deshalb weniger warmes Wasser aus der tropischen Karibik in den Nordatlantik verfrachtet wird. Es könnte aber auch bedeuten, daß die Kraft des Golfstroms nicht nachgelassen hat, daß ihn aber eine Meeresströmung aus dem Nordpolarmeer überwiegt.

Richard Edwing, stellvertretender Direktor der Abteilung Tides and Currents der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) der USA, berichtete, daß bei der Station Montauk auf Long Island im US-Bundesstaat New York ein Pegel von 1,2 Fuß (36 Zentimeter) registriert wurde. Das sei der bisher höchste jemals gemessene Stand gewesen. [2]

Inzwischen hat sich das Niveau des Meeresspiegels wieder gesenkt. Aber die Erklärungen der Experten, warum es angeblich zu diesem Effekt kam, wirken nur auf den ersten Blick plausibel. Zum einen sollen anhaltend kräftige, östliche Winde das Meerwasser an die Küste gedrückt haben. Allerdings tritt dieses Wetterphänomen normalerweise erst im Herbst auf und nicht im Juni! Mit anderen Worten: Zu der Anomalie kam es eigentlich an einer anderen Stelle. Aber an welcher?

Edwing berichtete, daß sich als zweiter Effekt eine Abschwächung des Golfstroms hinzugesellte. Die Ursache dafür liegt im dunkeln. Eine Abschwächung bedeutet jedoch, daß der Golfstrom weniger Wasser von der US-Ostküste absaugt - auch das trug nach Einschätzung des NOAA-Mitarbeiters zum außergewöhnlichen Anstieg des Meeresspiegels im Südosten der Vereinigten Staaten bei. Während im nördlichen Teil die Wirkung durch die kräftigen Winde überwog.

Für den Monat Juni kam noch der besondere Umstand hinzu, daß der Abstand Erde-Mond besonders gering war, was stets die Gezeitenkräfte stärkt, so auch in diesem Fall. Der NOAA-Forscher betonte, es gebe keinen Grund zur Annahme, daß die Erderwärmung zu jenem plötzlichen Anstieg des Meeresspiegels geführt hat. Die Kombination an Faktoren läge im Bereich der normalen Variabilität. Die "Anomalie" besteht somit nicht darin, daß hier und da ein besonders hoher Pegelstand erreicht wird, sondern daß der Effekt gleichzeitig an der gesamten Ostküste auftrat, wie die NOAA auf ihrer Website mitteilte. [3]

Es wäre zu prüfen, welche Auswirkungen die rasche Eisschmelze in der Arktis, über die aktuell berichtet wird [4], auf die polaren Meeresströmungen und Windsysteme hat. Denn als "ursprüngliche" Anomalie für den hohen Pegelstand an der nordamerikanischen Ostküste wurde ja bereits ein kräftiger Wind, der normalerweise erst im Herbst auftritt, ausfindig gemacht. Was aber, so ist zu fragen, ging der Verschiebung der Windsysteme voraus?

Alle Veränderungen, die an den atlantischen Meeresströmungen und Windsystemen beobachtet werden, verdienen eine besondere Aufmerksamkeit. Denn in West- und Nordeuropa herrscht nur deshalb ein relativ mildes Klima, weil der Golfstrom als Heizung fungiert und laufend warmes Wasser in den Norden pumpt. Fällt die Heizung aus, wird es in Europa so kalt wie in Kanada, das auf dem selben Breitengrad liegt und somit die gleiche Menge an Sonneneinstrahlung erfährt.

Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen die Verhältnisse im Atlantik auch deshalb, weil die Simulationen der Meeres- und Klimaforscher auf diverse Kippunkte - tipping points - schließen lassen. Sobald ein solcher Wert überschritten ist, kann sich ein System vollständig neu sortieren. Wenn beispielsweise der Golfstrom versiegt, weil er nicht mehr von einer meeresbodennahen, kalten, besonders salzhaltigen Strömung aus dem Nordatlantik angetrieben wird, dürfte dies nicht einfach "nur" zu einem Temperatursturz in Europa führen. Es würden sich sämtliche Meeresströmungen und Windsysteme in Europa ändern, was sicherlich weltweit zu spüren wäre.

Gegenwärtig baut sich im Pazifik ein neues El-Niño-Phänomen auf. Dabei dehnt sich zunächst eine warme, oberflächennahe, äquatoriale Strömung von West nach Ost aus. Ein äußeres Merkmal dieses Effekts besteht zur Weihnachtszeit in ungewöhnlich hohen Meerestemperaturen vor der südamerikanischen Westküste - mit dramatischen Einbußen für die Fischindustrie, da die kälteliebenden Fische ausbleiben. Ein El-Niño-Effekt wirkt sich immer weltweit aus. In Regionen, die gewöhnlich niederschlagsarm sind, treten Überschwemmungen auf, in niederschlagsreichen Regionen hält Dürre Einzug. Es entzieht sich weitgehend der Vorhersagbarkeit, was geschieht, sollten eines Tages Anomalien, wie sie jetzt im Atlantik aufgetreten sind, mit der "normalen" Anomalie eines El-Niño-Effekts, zu dem es alle drei bis fünf Jahre mit unterschiedlicher Intensität kommt, einhergehen. Dennoch kann eines als gesichert angenommen werden: Jede derartige Veränderung würde die Versorgungslage vieler Menschen gefährden. Infrastrukturen sind verletzlich, und Ernteeinbrüche als Folge von Dürren und Überschwemmungen können in der Regel nicht kompensiert werden. Die Weltgetreidereserven sind in den letzten Jahren immer weiter zusammengeschrumpft.


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Anmerkungen:

[1] "Rätselhafter Atlantik", wetter24.de, 6. August 2009
http://www.wetter24.de/de/home/wetter/wetter_news/news/archive/2009/august/ch/1842f25666/article/raetselhafter_atlantik.html

[2] "Experts explain why tide swings have been unusually high", The East Hampton Press, 28. Juli 2009
http://www.27east.com/story_detail.cfm?id=224470&town=EastHampton&n=The sea is rising

[3] "ALERT: East Coast water levels are currently running above predicted tides", Zugriff am 11. August 2009
http://tidesandcurrents.noaa.gov/press/EastCoastWaterLevelAnomaly.shtml

[4] "Belgien schmilzt jeden Tag dreifach", 11. August 2009
http://www.wir-klimaretter.de/content/view/3513/148/

11. August 2009