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KLIMA/460: Die "Beatmungsmaschine" der Erde, Phytoplankton, schwächelt (SB)


Weltmeere im Wandel

Lebensvoraussetzungen der Menschen massiv gefährdet


Unter Meeresforschern macht sich allmählich Alarmstimmung breit. Die Ozeane verändern sich in einem Tempo, wie es in der Erdgeschichte nur selten vorkam. Die Beobachtungen und Meßergebnisse der zahlreichen Forschergruppen sind zwar nicht in jedem Fall kongruent, doch zeichnet sich das deutliche Bild ab, daß der "Patient" Erde an einer schweren Einschränkung seiner Lungenfunktion leidet. Denn nicht der tropische Regenwald im Amazonasbecken ist die grüne Lunge der Erde, wie fälschlicherweise verbreitet wird, sondern die Ozeane sind der größte Einzelfaktor, durch den der lebenswichtige Sauerstoff freigesetzt und der Atemluft zur Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig fungieren die Ozeane als ungeregeltes Endlager für das zivilisatorische Abfallprodukt Kohlendioxid (CO2). Sie nehmen das Treibhausgas auf und binden es dauerhaft am Meeresboden. Bislang jedenfalls. Wie vieles andere, vermeintlich Feststehende und zur Beruhigung der Menschen Beitragende ist auch diese Eigenschaft der Ozeane mit Unsicherheit behaftet.

Jahr für Jahr mehren sich die besorgniserregenden Meldungen über Veränderungen der Ozeane, manchmal handelt es sich um regelrechte Hiobsbotschaften. Es ist erst rund sechs Wochen her, da berichteten Professor Ove Hoegh-Guldberg, Direktor des Global Change Institute der Universität von Queensland, Australien, und Dr. John F. Bruno, Assoziierter Professor an der Universität von North Carolina, USA, im Wissenschaftsmagazin "Science" [1] über die Ergebnisse ihrer Metastudie. Sie hatten Hunderte(!) von Studien über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Weltmeere ausgewertet und festgestellt, daß diese einer so schnellen Veränderung unterworfen sind, wie sie die letzten Millionen Jahre nicht vorgekommen ist.

Wie ist eine solche Aussage zu bewerten? Da Meßreihen zur Versauerung der Ozeane oder der Erwärmung um ein paar Zehntel Grad Celsius oder auch der Abnahme der Phytoplanktonproduktivität wenig anschaulich sind, seien sie hier in ein Bild gebracht: Ein Patient, der mit solchen Werten seiner Vitalfunktionen in ein Krankenhaus eingeliefert wird, würde sofort auf die Intensivstation verlegt. Notfallmediziner würden seinen Zustand als "bedrohlich" bezeichnen.

Jüngere Untersuchungen, die von den beiden genannten Forschern nicht mehr berücksichtigt werden konnten, bestätigen die Metastudie auf ganzer Linie. Beispielsweise die Beobachtung, daß der pH-Wert der arktischen Gewässer keineswegs unter dem anderer Meere liegt. Das stellten der chinesische Biogeochemiker Wei-Jun Cai von der Universität von Georgia in Athens und eine internationale Forschergruppe fest. Sie berichteten im Wissenschaftsmagazin "Science" über die Ergebnisse ihrer Wasserproben, die mit dem chinesischen Eisbrecher Xuelong im Sommer 2008 in arktischen Gewässern genommen wurden. In den eisfreien Gebieten des kanadischen Beckens enthält das Meer hohe CO2-Werte. "Das war nicht erwartet worden", berichtete Studienleiter Cai. [2]

Bislang galt es in der Fachwelt für ausgemacht, daß das Nordmeer größere Mengen CO2 aus der Atmosphäre absorbieren wird, sobald die Eisbedeckung verschwindet. Diese Hoffnung erweist sich anscheinend als Irrtum. Die Forscher hatten vor Alaska und der nordkanadischen Küste, wo der Kontinentalhang in die Tiefsee übergeht, einen Partialdruck des CO2 von 120 bis 250 Mikroatmosphären gemessen. Die Werte lagen deutlich unter der atmosphärischen Konzentration von 375 Mikroatmosphären (das entspricht einem Luftanteil von 0,0375 Prozent), was bedeutet, daß hier noch ein Potential zur CO2-Aufnahme besteht. Aber in den eisfreien Regionen weiter draußen vor der Küste stieg die CO2-Konzentration auf 320 bis 365 Mikroatmosphären an, so daß dort kaum mehr weiteres CO2 absorbiert werden kann. Wie gesagt, die Meßergebnisse stammen aus dem Jahr 2008. Nur rund ein Jahrzehnt zuvor, zwischen 1994 und 1999, registrierten Forscher im gleichen Meeresgebiet CO2-Konzentrationen von teilweise nur 260 bis 300 Mikroatmosphären, manchmal sogar noch weniger.

Das Nordmeer nimmt zwar nur drei Prozent der weltweiten Meeresoberfläche ein, es hat aber einen Anteil an der CO2-Aufnahme aller Ozeane von fünf bis vierzehn Prozent. Dieses ungleiche Verhältnis kommt zustande, weil kaltes Wasser über eine größere CO2-Aufnahmekapazität verfügt als wärmeres. Sind aber die Ozeane mit Kohlendioxid gesättigt und haben einen entsprechend niedrigen pH-Wert, verlieren sie ihre Pufferfunktion hinsichtlich der Aufnahme der anthropogenen Treibhausgase. Insofern sind die obigen Forschungsergebnisse in zweierlei Hinsicht bedenklich. Erstens sind die arktischen Gewässer weitgehend CO2-gesättigt. Zweitens erfolgte die Sättigung in sehr kurzer Zeit. Die Pufferfunktion des Nordmeers wurde in Anspruch genommen und besteht nun nicht mehr.

Bei einer zunehmenden Erderwärmung wäre also zu erwarten, daß die Meere eine Zeitlang versauern (was tatsächlich beobachtet wird), irgendwann ihre Aufnahmekapazität erschöpft ist und daraufhin die CO2-Konzentration in der Atmosphäre beschleunigt ansteigt - sofern die Emissionen nicht reduziert werden! Das würde die allgemeine Erderwärmung beschleunigen, und die Meere büßten auch noch ihre letzte Eigenschaft zur Aufnahme von CO2 ein.

Betrachtet man allein die Wechselwirkung von CO2-Emissionen, Erderwärmung und CO2-Aufnahme der Meere, so haben wir hier ein hochdynamisches System sich gegenseitig beeinflussender, partiell sogar sich verstärkender Faktoren, die auf eine Versauerung der Meere und Beschleunigung des Treibhauseffekts hinauslaufen. Das ist kein in der Zukunft liegender Vorgang, sondern konkretes Abbild dessen, was Forscher zur Zeit registrieren.

An welcher Stelle genau sich die Erde in diesem Ablauf befindet, vermag niemand zu sagen. Wissenschaftler rechnen jedoch damit, daß sich Erdatmosphäre und Ozeane ab einem nicht näher bekannten Schwellenwert mit wachsender Geschwindigkeit auf Verhältnisse zubewegen, die nur noch als lebensfeindlich bezeichnet werden können. Der Vorgang ist mit der Eutrophierung von Seen durch Nitrat- und Phosphateinleitungen vergleichbar. Dadurch wird das Algenwachstum angeregt und zunächst folgt dieser höheren Primärproduktion eine Vermehrung von Lebewesen, die von Algen leben. Doch schon sehr bald kippen die Verhältnisse um, denn durch das Algenwachstum wird der bakterielle Abbau der pflanzlichen Zellen angeregt, wodurch dem Wasser Sauerstoff entzogen wird. Sogenanntes höheres Leben stirbt ab. Übertragen auf die zunehmende Versauerung der Meere durch anthropogene Treibhausgasemissionen läuft das darauf hinaus, daß die Menschen an ihrem eigenen Ast sägen.

Cai und seine Forscherkollegen haben außerdem eine relativ geringe Phytoplanktonproduktion in den eisfreien Gebieten des Nordmeers beobachtet. Der Atmosphäre wird also kaum Kohlenstoff entzogen, das ansonsten in das organische Material wandern würde. Anscheinend fehlt es an Nährstoffen, denn Sonnenlicht allein genügt nicht, um die Planktonproduktion anzuregen. Als nicht so dramatisch wertet dagegen Bob Anderson, Geochemiker am Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia-Universität in New York, diese Meßergebnisse. Ob die CO2-Aufnahmefähigkeit bereits erfüllt ist, sei unsicher, meint er. Langfristige Trends könne man nicht anhand einiger Schnappschüsse bestimmen; die saisonale und räumliche Variabilität der CO2-Konzentration sei sehr groß.

Ob solche Einwände berechtigt sind oder nicht, werden weitere Forschungen zeigen. Die Studie gilt als die erste, mit der die chinesische Klimaforschung die Weltbühne betreten hat. Weder kann ausgeschlossen werden, daß die kritischen Einwände politisch motivierte Aspekte enthalten, noch daß die von der Regierung Chinas finanzierten Forscher unter Erfolgsdruck standen und die Bedeutung ihrer Ergebnisse besonders hervorhoben. Wie dem auch sei. Die Studie deckt sich jedenfalls mit den Untersuchungsergebnissen anderer Forschungen, die nur als alarmierend bezeichnet werden können. Seit 1950 ist die Phytoplanktonproduktion in den Weltmeeren um 40 Prozent zurückgegangen. Das fanden der Meeresbiologe Boris Worm von der Dalhousie-Universität in Halifax, Kanada, und seine Kollegen laut einem aktuellen Bericht in "Nature" heraus. [3]

Drei Jahre lang hatten die Wissenschaftler Satellitenbeobachtungen zur Phytoplanktonmenge mit historischen Messungen, die von Schiffen aus durchgeführt worden waren, verglichen. Demnach geht die Phytoplanktonmenge jährlich um ein Prozent zurück, in den letzten Jahren hat sich der Vorgang noch beschleunigt. Der Ozeanograph Paul Falkowski von der Rutgers-Universität in New Brunswick, New Jersey, bewertet das Studienergebnis Worms wie folgt: "Vierzig Prozent ist eindeutig eine riesige Zahl. Das bedeutet, daß das gesamte Ozeansystem aus dem Gleichgewicht ist, es verlangsamt sich." [3]

Eigentlich könnte man sogar genau umgekehrt sagen, daß sich das Ozeansystem verlangsamt, weil es sich dem Ideal des Gleichgewichts annähert. Denn Forscher haben festgestellt, daß sich bei steigenden Temperaturen die Meeresschichten weniger durchmischen. Das bedeutet, daß weniger Nährstoffe aus größeren Tiefen an die Oberfläche gelangen. Das könnte einer der Gründe sein, warum sich in den letzten Jahrzehnten weniger Phytoplankton bildet. Außerdem verringert die mangelnde Durchmischung die Sauerstoffabgabe der Meere, während umgekehrt ihre Aufnahmefähigkeit an Kohlendioxid reduziert wird. Daraus sollte aber nicht abgeleitet werden, daß deswegen die zunehmende Versauerung beendet würde. Die bereitet allen Meeresbewohnern, die Kalkschalen bilden, ernsthafte Probleme, da sich Kalkverbindungen in sauren Umgebungen auflösen. Der Effekt betrifft nicht nur Muscheln, auch Kleinstlebewesen grenzen sich durch Kalkschalen von ihrer Umgebung ab. Selbst manche Phytoplanktonarten sind auf kalkhaltige Anteile angewiesen.

Hatten Meeresforscher früher geglaubt, daß die Produktivität der Ozeane mit der Erderwärmung steigt, gibt es inzwischen deutliche Hinweise, daß diese Vorstellung falsch ist. Das genau Gegenteil trifft zu, wie vor kurzem Michael Behrenfeld, Professor für Botanik an der Staatsuniversität von Oregon, am Beispiel des Nordatlantik herausgefunden hat. [4] Damit stellt er eine zentrale Vorstellung zum Algenwachstum, die in der Fachwelt "critical depth hypothesis" genannt wird, auf den Kopf. Demnach bildet sich das Phytoplankton nicht im Frühjahr, wenn die Tage länger werden und die oberste Meeresschicht mehr Licht erhält, sondern bereits inmitten des Winters, weil dann verstärkt aufquellendes Tiefenwasser in die oberen Meeresschichten gelangt und es dem Zooplankton, das üblicherweise große Mengen an Phytoplankton verzehrt, erschwert, Nahrung zu finden.

Die Bedeutung der hier angesprochenen wissenschaftlichen Studien kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Phytoplankton sichert in dreifacher Hinsicht die Lebensvoraussetzungen der Menschen: Es ist Basis der marinen Nahrungskette, an der ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung partizipiert, es führt täglich rund 100 Millionen Tonnen atmosphärisches CO2 in organisches Material über und wirkt somit dem Treibhauseffekt entgegen, und, was am allerwichtigsten ist, es setzt rund die Hälfte des Sauerstoffs der Atmosphäre frei. Um noch einmal das obige Bild des Patienten, der intensivmedizinisch behandelt wird, zu bemühen: Die Reduzierung der Phytoplanktonmasse um 40 Prozent könnte man mit einer drastischen Verringerung der Leistungsfähigkeit der Beatmungsmaschine vergleichen. Die Folgen mögen sich die geneigten Leserinnen und Leser des Schattenblick selber ausmalen.


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Anmerkungen:

[1] Hoegh-Guldberg et al.: "The Impact of Climate Change on the World's Marine Ecosystems", Science, 2010; 328 (5985): 1523, DOI: 10.1126/science.1189930
Näheres im Schattenblick unter:
KLIMA/450: Forscher warnen vor rascher Veränderung der Ozeane (SB)

[2] "Arctic Ocean full up with carbon dioxide", Nature, 22. Juli 2010, doi:10.1038/news.2010.372
http://www.nature.com/news/2010/100722/full/news.2010.372.html

[3] "Ocean greenery under warming stress. A century of phytoplankton decline suggests that ocean ecosystems are in peril, Nature, 28. Juli 2010, doi:10.1038/news.2010.379
http://www.nature.com/news/2010/100728/full/news.2010.379.html

[4] "Old Theory of Phytoplankton Growth Overturned, Raise Concerns for Ocean Productivity", ScienceDaily, 16. Juli 2010
http://www.sciencedaily.com/releases/2010/07/100716140917.htm

30. Juli 2010