Schattenblick → INFOPOOL → UMWELT → REDAKTION


KLIMA/563: Kurzzeitige Trendumkehr des Meereisschwunds der Arktis (SB)


Unverminderte Erwärmung der Arktis trotz Abweichungen


Das arktische Meereis ist anscheinend beständiger als angenommen, schlußfolgert eine Forschergruppe nach der jüngsten Beobachtung des Zuwachses der Eisausdehnung in den polaren Breiten in Folge eines einzigen kühleren Sommers. Im folgenden soll die Frage diskutiert werden, ob nicht genau umgekehrt ein Schuh daraus wird: Das Meereis ist nur so "stabil", wie es die jeweiligen klimatischen Bedingungen zulassen. Steigen die Temperaturen in der Arktis, wird sie in den Sommermonaten eisfrei sein.

Die Forschergruppe um Rachel L. Tilling vom Centre for Polar Observation and Modelling des Department of Earth Sciences des University College London berichtete am 20. Juli 2015 im Wissenschaftsmagazin "Nature Geoscience" über die Meßergebnisse von Eisdicke und -volumen durch den Satelliten CryoSat-2 aus dem Zeitraum 2010 bis 2014. Demnach verringerte sich das arktische Eisvolumen zwischen Herbst 2010 und Herbst 2012 um 14 Prozent, was dem generellen Trend entspricht - seit Ende der siebziger Jahre hat das Meereisvolumen um 40 Prozent abgenommen, und zwar sowohl hinsichtlich Ausdehnung als auch Dicke. [1]

Dieser Trend wird in den ersten drei Jahren des Untersuchungszeitraums bestätigt, nicht jedoch 2013 und 2014. Im Herbst jener beiden Jahre wuchs das Meereis um 33% bzw. 25% gegenüber dem Durchschnitt der drei Vorjahre. Das führt die Forschergruppe auf die Beständigkeit des Meereises nordwestlich von Grönland während des Sommers 2013 zurück, was wiederum mit einem fünfprozentigen Rückgang der Zahl der Eisschmelztage zu tun habe.

Diese deutliche Zunahme des Meereisvolumens nach nur einem kühlen Sommer lege nahe, daß das Meereis "etwas stabiler" ist als angenommen, heißt es nun. Zunächst einmal ist zu fragen, auf wessen Annahmen sich die Forschergruppe hier beruft. So antwortete im Mai dieses Jahres ein Experte für die Auswertung von Daten zur Meereisdicke, Prof. Kaleschke vom Zentrum für Marine und Atmosphärische Wissenschaften (ZMAW) in Hamburg, auf die Frage des Schattenblick, ob das von US-Behörden gemeldete Minimum der winterlichen Meereisausdehnung ein Trend sei, der dem sommerlichen Eisverlust folgt: "Es gibt keine besonders starke Korrelation zwischen der Meereisausdehnung im Winter und im Sommer, auch wenn im Winter ein langanhaltender Trend der Abnahme zu beobachten ist, was man an jedem Monat des Jahres feststellen kann. Im Sommer ist diese Entwicklung jedoch viel stärker ausgeprägt."

Im übrigen wiegelte Prof. Kaleschke, was die Ankündigung von neuerlichen Rekordwerten betrifft, ab: "Ich möchte aber ein wenig widersprechen, daß wir jetzt hier ein Rekordminimum im Winter haben sollen. Das war nicht so sehr signifikant, daß man sagen könnte, es sei bei allen Metriken, die wir haben, um diese Fläche zu messen, ein Rekord aufgetreten. Es war vielleicht ein Rekord in dem einen Datensatz, aber in dem anderen eben nicht."

Entscheidend ist im Zusammenhang mit der aktuellen Studie, daß er die Entstehung von Rekordwerten von der Wetterentwicklung abhängig machte: "Die geringste jemals gemessene Eisausdehnung für den Monat April im Mittelwert war im Jahr 2007. Damals hatten wir dann auch ein Rekordminimum im September. Das könnte darauf hindeuten, daß wir in diesem Jahr auch relativ wenig Eis haben werden, es muß aber nicht so kommen. Das hängt sehr davon ab, wie sich das Wetter in den nächsten Monaten entwickelt. Das ist der wesentliche Faktor, den man nicht vorhersagen kann, dazu liegt noch kein gesicherter statistischer Trend vor." [2]

Sicherlich verzeichnet das arktische Meereis auch eine gewisse Beständigkeit. Sie ist bei mehrjährigem, dickeren Eis ausgeprägter als bei dünnem Eis. Doch selbst wenn die Arktis eines Sommers vollständig eisfrei wäre, würde sie wieder gefrieren, wenn die Temperaturen unter Null Grad sinken und das Meer nicht zu viel Wärme gespeichert hat. Ein Glas Wasser gefriert, wenn man es ins Eisfach stellt, ob das Wasser zuvor schon einmal gefroren war oder nicht. Bezogen auf die Arktis bedeutet es, daß ein Ausbremsen des Klimawandels und eine Reduzierung der hohen Temperaturen in der Arktis selbstverständlich auch die Rückkehr des Meereises erwarten läßt.

Im übrigen sagt selbst Studienleiterin Tilling laut dem "Guardian", daß der Klimawandel voranschreitet und die globale Durchschnittstemperatur steigt, trotz beträchtlicher Variationen von einem Jahr zum nächsten: "Es war ein kaltes Jahr - so etwas kommt vor." [3]

Und an anderer Stelle zum Meereis: "Wenn man sich den langfristigen Temperaturtrend in der Arktis anschaut, so geht er nach oben, und wenn man sich den langfristigen Trend des Volumens anschaut, so geht es weiterhin nach unten." [4]

So bleibt abschließend die Frage, was denn die Studie überhaupt aussagen soll. Wissenschaftler darauf aufmerksam zu machen, daß es innerhalb eines Trends Gegenentwicklungen und Sprünge gibt, hieße, Eulen nach Athen zu tragen. Vielleicht hat die Berichterstattung damit zu tun, daß bislang der Betrieb von CryoSat nur bis zum Jahr 2017 gesichert ist und die Forscher nicht auf die Möglichkeit dieser satellitengestützten Meereiserkundung verzichten wollen. Tilling: "Wir brauchen arktisweite Messungen der Eisdicke, doch CryoSat ist nur bis 2017 vorgesehen." [3]

Deutlich wird an diesem Beispiel allerdings, wie weitgehend die Wissenschaft den Entwicklungen hinterherläuft und ihre Modellvorstellungen den sich verändernden Gegebenheiten anpaßt. Hieraus jedoch den Schluß zu ziehen, sich die Meereisforschung sparen zu können, hieße, die Fessel des Nachvollzugs ignorieren zu wollen und sie dadurch noch enger zu ziehen als je zuvor.


Fußnoten:

[1] http://www.nature.com/ngeo/journal/v8/n8/full/ngeo2489.html

[2] INTERVIEW/181: Der Blick aus dem All - Pionierarbeit und Zugewinn ... Prof. Lars Kaleschke im Gespräch (SB)
http://schattenblick.com/infopool/umwelt/report/umri0181.html

[3] http://www.theguardian.com/environment/2015/jul/20/arctic-sea-ice-volume-showed-strong-recovery-in-2013

[4] http://www.washingtonpost.com/news/energy-environment/wp/2015/07/20/no-arctic-sea-ice-is-not-going-to-be-okay/

31. Juli 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang