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KLIMA/574: Verdunkelungsgefahr - Grönlands Gletscher tauchen unter ... (SB)


Eine Reihe jüngerer Studien zeigt starke Massenverluste des grönländischen Eisschilds

Forscher rechnen mit stärkerem Anstieg des Meeresspiegels als bisher angenommen


Wenn in wenigen Wochen Regierungsvertreter in Paris zur Konferenz COP21 zusammenkommen, um ein neues internationales Klimaschutzabkommen zu beschließen, dient dieser Aufmarsch im wesentlichen der Beruhigung. Nicht allein deswegen, weil die Summe der Auswirkungen aller von den einzelnen Nationen beabsichtigten Klimaschutzmaßnahmen, die Intended Nationally Determined Contributions (INDC), nicht genügt, um eine folgenschwere Klimaentwicklung zu verhindern, sondern weil bereits die wissenschaftlichen Berechnungen auf Voraussetzungen beruhen, die ständig im Fluß sind. Als dementsprechend ungenügend dürften sich die politischen Entscheidungen erweisen, die im Dezember auf der COP21 getroffen werden.

Wie weitreichend neue Erkenntnisse die wissenschaftliche Basis, auf die sich die politischen Entscheidungsträger berufen, verändern können, wird am Beispiel der Gletscherschmelze Grönlands deutlich, zu der in den letzten Jahren zahlreiche Fachartikel veröffentlicht wurden. Die von einem kilometerdicken Eispanzer bedeckte Insel ist in die Aufmerksamkeit der Klimaforschung gerückt, weil sowohl die Luft- als auch Wassertemperaturen in der Region steigen und sich die Hinweise häufen, daß die beschleunigte Gletscherschmelze von Grönland bereits heute erheblich zum Anstieg des globalen Meeresspiegels beiträgt, nämlich mindestens zu 0,5 mm pro Jahr (von insgesamt 3,2 mm). Würde der Eispanzer vollständig schmelzen, stiege der Meeresspiegel weltweit um sechs bis sieben Meter.

In zahlreichen wissenschaftlichen Studien der jüngeren Zeit werden Faktoren genannt, die als Indizien für eine Beschleunigung der Gletscherschmelze gelten. So berichteten der Forscher Thomas Goelles vom Universitätszentrum auf Spitzbergen und seine Kollegen aktuell im Journal "The Cryosphere" von ihren Studien in einem kleinen Teil Grönlands und sie gelangen zu dem Schluß, daß der Massenverlust des Eispanzers langfristig um mindestens sieben Prozent höher ausfallen dürfte als bislang angenommen. Um sicher sagen zu können, ob sich die Ergebnisse auf den gesamten Eisschild hochrechnen lassen, lägen allerdings zu wenige Daten vor. [1]

Dennoch: In der Studie werden Verhältnisse beschrieben, von denen man annehmen kann, daß sie mindestens partiell ebenfalls für andere Regionen Grönlands gelten. Im wesentlichen geht es den Forschern um die Bestimmung des Verhältnisses von dunklen zu hellen Flächen, denn dunkle Oberflächen nehmen mehr Wärme auf. Aufgrund dessen läßt sich sagen, daß die Albedo - damit ist das Rückstrahlungsvermögen gemeint - der Eisfläche Grönlands in den letzten Jahren abgenommen hat.

Marko Tedesco von der City University of New York und Kollegen berichten in "Eos", dem Journal der Amerikanischen Geophysikalischen Union, was zum Dunklerwerden des grönländischen Eisschilds beitragen kann und welche Folgen das hat: Rußpartikel, die sich aufs Eis legen, verdunkeln die Fläche und verstärken somit den Schmelzvorgang. Auf eben diese Weise wirkt sich aber nicht nur der heutige Ruß- und Staubeintrag aus. Das gleiche gilt für Ablagerungen aus prähistorischer Zeit, die beispielsweise als Folge von Vulkanismus oder Winderosion auf dem Eis gelandet und anschließend zugeschneit worden sind. Sie verringern die Albedo, sobald die obersten Eis- und Schneeschichten auf Grönland weiter abschmelzen und die uralten Immissionen freigelegt werden. Man hat es hier mit einem sich selbst verstärkenden Prozeß zu tun, da die Partikel jenen Schmelzprozeß beschleunigen, der sie an die Oberfläche gebracht hat.

Schmelzwasser, das sich im Sommer auf riesigen Flächen sammelt oder in reißenden Strömen oberflächlich abfließt, ist ebenfalls dunkler als Schnee und nimmt somit mehr Wärme auf. Gleiches gilt für größere, zusammengebackene Schneekristalle im Verhältnis zu feinen Schneekristallen. Selbst Bakterien, die sich in Folge der wärmeren und länger anhaltenden Sommerperioden vermehren, verringern die Albedo.

Man habe bisher zu sehr auf die Auswirkungen von Rußpartikeln geschaut, schreibt die Forschergruppe um Tedesco. Aber es sei wichtig, andere Faktoren, die die Albedo herabsetzen, zu erfassen. "Wir müssen diese Rückkopplungen quantifizieren und begreifen, damit wir den Energiehaushalt an der Eisoberfläche erfassen und zukünftige Veränderungen in der Eismasse bestimmen können", empfehlen die Forscher zum Abschluß des "Eos"-Artikels. [2]

Bereits im vergangenen Jahr schrieb eine französische Forschergruppe in "Nature Geoscience", daß die Verschmutzungen des grönländischen Eises seit 2009 gegenüber dem Durchschnitt der fünf Jahre zuvor zugenommen haben und daß dies vermutlich auf den Eintrag von Staub von den eisfreien Flächen Grönlands zurückgeht. Aufgrund dessen könnte sich die Geschwindigkeit des Eisverlustes gegenüber den letzten 20 Jahren verdoppeln, vermuten die Forscher. [3]

Ebenfalls im vergangenen Jahr meldete eine Forschergruppe der Technischen Universität Dänemark im Journal "Nature Climate Change", daß nicht nur die Gletscher im Süden Grönlands, sondern inzwischen auch die an der Nordostküste, die in den North-East Greenland Ice Stream mündeten, in den zurückliegenden sieben bis achten Jahren einen deutlichen Massenverlust erfahren und sich um bis zu 20 Kilometer zurückgezogen haben. Grönland verlöre jährlich zehn Milliarden Tonnen Eis. Das könnte bedeuten, daß die Berechnungen zum Meeresspiegelanstieg nach oben korrigiert werden müßten, hieß es. [4]

Außerdem vermuteten die Forscher, daß bereits ein sich selbst verstärkender Prozeß angelaufen ist. Denn obwohl die Ausdehnung der Meereisfläche wieder auf dem Stand von 2006 zugenommen hatte und auch die Umgebungstemperaturen, die zwischenzeitlich gestiegen waren, wieder auf das damalige Niveau gesunken seien, würden einige Gletscher weiter abschmelzen.

An manchen Stellen nimmt das Eis sogar zu, obgleich die Durchschnittstemperatur steigt. Die dynamischen Vorgänge des grönländischen Eisschilds sind viel komplexer, als wir uns das vorgestellt haben, berichtete Beata Csatho von der Universität Buffalo und ihrer Forschergruppe in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS). Auf Grönland gibt es 242 Gletscher, die breiter als 1,5 Kilometer sind. Auf der Basis von umfangreichen Höhenmessungen mittels Satelliten und Flugzeugen kam diese Studie sogar auf einen jährlichen Eismassenverlust von 243 Milliarden Tonnen (entspricht 277 Kubikkilometern), was demnach auf einen Anteil am globalen Meeresspiegelanstieg von jährlich 0,68 mm hinausläuft. [5]

Die Gletscher Grönlands und der Antarktis könnten zehn mal schneller schmelzen als angenommen, vermuten James Hansen, ehemals leitender Klimawissenschaftler der US-Raumfahrtbehörde NASA und heute außerordentlicher Professor am Earth Institute der Columbia University, und 16 Co-Autorinnen bzw. Autoren. Nach Auswertung der Fachpublikationen und aufgrund eigener Berechnungen rechnet die Forschergruppe damit, daß der Meeresspiegel gegen Mitte dieses Jahrhunderts drei Meter höher liegen könnte als heute. [6]

Das ist verglichen mit anderen Studien eine extreme Annahme, was aber ganz und gar nicht bedeutet, daß sie deswegen unplausibel wäre. Im Gegenteil. Die Berechnungen des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) beispielsweise, auf die sich Politiker in der Regel beziehen, ergeben im Worst-case-Scenario einen Meeresspiegelanstieg von rund einem Meter bis Ende des Jahrhunderts. Dieser Wert gilt inzwischen als konservativ, zumal jüngere Beobachtungen zum beschleunigten Eisverlust Grönlands, wie wir sie hier beispielhaft aufgeführt haben, noch keinen Eingang in die IPCC-Projektionen fanden.

Wenn sich demnach die Regierungsvertreter auf der UN-Klimakonferenz von Paris auf den jüngsten IPCC-Bericht stützen, werden die beschlossenen Maßnahmen vermutlich weit hinter dem zurückbleiben, was aufgrund jüngerer wissenschaftlicher Beobachtungen geboten wäre, um die bevorstehenden katastrophalen Entwicklungen in vielen Weltregionen zumindest abzumildern.

Unterdessen stimmt die grönländische Regierung die 47.000 Einwohner der Insel mit einem jährlich ausgetragenen "Mineral-Wettbewerb" auf Zeiten ein, in denen Grönland zum Exporteur von Bodenschätzen wie Zink, Eisenerz, Gold, Platin und Erdöl werden könnte, da durch den Rückzug der Gletscher Lagerstätten zugänglich werden. Nahe der Hauptstadt Nuuk wurden bereits Eisen- und im Norden Grönlands Zinkvorkommen entdeckt. [7]

Bergbauaktivitäten sind unvermeidlich mit Staub- und anderen Emissionen verbunden. Und so haben wir hier einen weiteren sich selbst verstärkenden Prozeß: Je mehr sich die Gletscher zurückziehen, desto mehr Rohstoffe werden abgebaut und desto mehr Staub wird aufgewirbelt, der auf den Eisschild geweht wird. Das beschleunigt wiederum die Gletscherschmelze.


Fußnoten:

[1] http://www.the-cryosphere.net/9/1845/2015/tc-9-1845-2015.pdf

[2] https://eos.org/opinions/what-darkens-the-greenland-ice-sheet

[3] http://www.nature.com/ngeo/journal/v7/n7/full/ngeo2180.html

[4] http://www.nature.com/nclimate/journal/v4/n4/full/nclimate2161.html

[5] http://www.pnas.org/content/111/52/18478.full.pdf?sid=5259e9d7-3d11-437b-af1f-8dbf5ddf7d43

[6] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/15/20059/2015/acpd-15-20059-2015.pdf

[7] http://www.welt.de/wissenschaft/umwelt/article5476285/Eisschmelze-macht-Weg-zu-Bodenschaetzen-frei.html

6. November 2015


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