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KLIMA/581: Jahresrückblick 2015 (SB)


2015 könnte als symbolträchtiger Beginn katastrophaler Klimatrends in die Geschichte eingehen


In 2015, dem wärmsten Jahr seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen, hat die Wissenschaft eine Reihe von Studien veröffentlicht, die zeigen, daß sich die Erde klimatisch an der Schwelle zu bahnbrechenden Veränderungen befindet. Diese werden einen wesentlichen Einfluß auf die menschliche Gesellschaft haben. Außerdem wurde anhand der Analyse von Klimaarchiven (Eisbohrkernen, Seesedimenten, Baumringen, etc.) aufgezeigt, daß in der Vergangenheit Klimaveränderungen sehr viel schneller eintraten, als man es bislang für möglich gehalten hat.

Aus klimapolitischer Sicht war das Jahr 2015 allerdings auch ein Jahr starker Symbole: Zum einen wurden zwei zentrale Grenzwerte überschritten - die globale Durchschnittstemperatur ist um mehr als 1,0 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit gestiegen und die globalen anthropogenen Kohlendioxidemissionen haben den Schwellenwert von 400 ppm (parts per million) überschritten -, zum anderen hat die internationale Staatengemeinschaft mit dem Pariser Abkommen eine überaus symbolträchtige, von Absichtserklärungen geprägte, jedoch unverbindliche Vereinbarung zum Klimaschutz getroffen.

Keineswegs symbolträchtig sind natürlich die Beobachtungen und Analysen seitens der Wissenschaft über vorgeschichtliche und heutige Entwicklungen in den Natursystemen der Erde und übrigens auch unseres Nachbarplaneten Mars. Von ihm nimmt man an, daß seine Oberfläche auch von größeren Mengen an Wasser geformt wurde, das heute aus noch unbekannten Gründen verschwunden ist. Könnte mit der Erde Ähnliches geschehen?

Ob es jemals eine Antwort darauf geben wird, ist offen. Keine Frage hingegen besteht darin, daß ein Klimawandel stattfindet, der im Unterschied zu dem in vorgeschichtlicher Zeit inzwischen maßgeblich durch menschliche Aktivitäten, insbesondere durch die Verbrennung fossiler Energieträger mit der Folge der Freisetzung von CO2, angetrieben wird und die Erde sich erwärmt. Aber mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß, darüber wird - wie bei der komplexen Datenlage nicht anders zu erwarten - heftig diskutiert.

Für einige Aufregung sorgte im Juli 2015 eine internationale Studie, an der unter anderem James Hansen, ehemaliger leitender Klimaforscher der US-Raumfahrtbehörde NASA und heute außerordentlicher Professor am Earth Institute der Columbia University, beteiligt war. Hansen und seine 16 Kolleginnen und Kollegen schrieben im Journal "Atmospheric Chemistry and Physics Discussions" der European Geosciences Union, daß sich ihren jüngeren Beobachtungen und Berechnungen zufolge die Eisverluste in der Westantarktis und Grönland alle zehn Jahre verdoppeln werden und der Meeresspiegel im Zeitraum von 2050 bis 2100 global um drei Meter steigen könnte. [1]

Zum Vergleich: Der Weltklimarat war in seinem Fünften Sachstandsbericht (AR 5), der 2014 veröffentlicht wurde, von einem Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts von höchstes knapp einem Meter ausgegangen. Wobei bestimmte Eisdynamiken noch keinen Eingang in die Berechnungen gefunden hatten, wohingegen an der Forschergruppe um Hansen ausgewiesene Gletscherexperten beteiligt waren, die auf jüngste Meßdaten zurückgreifen konnten.

Werden erdgeschichtliche Vergleiche bemüht, so ragt die Projektion von 3 Meter Meeresspiegelanstieg in den nächsten 35 bis 85 Jahren keineswegs einsam aus dem Datenwald hervor. Vor rund 14.500 Jahren war das Meer innerhalb weniger Jahrhunderte global um etwa 20 Meter, also um mehrere Meter pro Jahrhundert, gestiegen. Das Ereignis wird in der Fachliteratur als "Schmelzwasserpuls 1A" beschrieben. Und vor 120.000 Jahren lag die globale Durchschnittstemperatur nur rund ein Grad Celsius über dem heutigen Wert. Das entspräche ziemlich genau den Verhältnissen, wie sie von der im Pariser Abkommen angepeilten Leitplanke von zwei Grad Celsius Temperaturanstieg gegenüber der vorindustriellen Zeit (mit der Perspektive, die 1,5-Grad-Leitplanke ins Auge zu fassen) zu erwarten sind. Der Meeresspiegel war damals jedoch fünf bis neun Meter höher als heute, was bedeutet, daß das Pariser Klimaschutzabkommen, sollte es denn eingehalten werden, auf eine Welt zusteuert, in der viele pazifische Inselstaaten und breite Küstenstreifen auf allen Kontinenten untergehen.

Etwa zur Zeit der Veröffentlichung der - nennen wir sie der Einfachheit halber - "Hansen-Studie" antwortete das US-Verteidigungsministerium im Zusammenhang mit einer Kongreßanfrage nach den größten und am wahrscheinlichsten eintretenden Folgen des Klimawandels für die Combatant Commands (Kampfkommandos), daß der Klimawandel eine "aktuelle Sicherheitsgefahr" und nicht etwa "ein rein langfristiges Risiko" sei und daß die negativen Folgen des Klimawandels "bereits eintreten" und "weiter zunehmen" werden. [2]

Damit hat sich der einflußreiche Militärapparat der USA nicht zum ersten Mal eindeutig gegen gewisse Vertreter der Partei der Republikaner und auch gegen Erdöllobbyisten wie die berüchtigten Koch-Brüder, die angekündigt haben, daß sie fast 900 Millionen Dollar in den Präsidentschaftswahlkampf 2016 stecken wollen (und mit Sicherheit niemanden unterstützen werden, von dem irgendwelche Klimaschutzmaßnahmen zu erwarten wären!), positioniert. [3]

2015 war auf jeden Fall ein Jahr der klimatisch relevanten Ankündigungen. Wie bereits erwähnt, stand an erster Stelle die Ansammlung von Absichtserklärungen im Pariser Abkommen, das sogar noch das zahnlose Kyoto-Protokoll an Verbindlichkeit unterbietet. Einschätzungen wie die des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), demzufolge das Pariser Abkommen "historisch" ist, gar ein "Wendepunkt" für die Menschheit sei und daß es über "nationale Egoismen" hinausgeht [4], sind zwar angesichts jener 1,5-Grad-Zielsetzung verständlich und auch menschlich nachvollziehbar, da die Welt ansonsten sehr, sehr ungemütlich werden wird. Aber angesichts der bisherigen politischen Entscheidungen zum Klimaschutz möchte man mit Goethes Faust ausrufen: "Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube."

Der vollkommen ungetrübte Glaube scheint auch dem Direktor des PIK, Prof. Hans Joachim Schellnhuber, zu fehlen. Der macht nämlich eine gewisse Einschränkung zur obigen Einschätzung: "Wenn das Paris-Abkommen ernsthaft umgesetzt wird, würde es die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis Mitte des Jahrhunderts auf den Weg bringen. Die derzeitigen CO2-Reduktionspläne der meisten Länder, die sogenannten INDC, sind jedoch noch nicht ausreichend. Sie müssen in den nächsten Jahren unbedingt verbessert werden."

Schellnhuber ist nicht nur langjähriger Berater der Bundesregierung, er hat auch Papst Franziskus bei der Abfassung der weltweit beachteten Enzyklika "Laudato Si'" beraten, die im Juli 2015 veröffentlicht wurde und mit "Sorge für das gemeinsame Haus" überschrieben ist. In dem Dokument werden Dinge gesagt, wie sie auch von NGOs, beispielsweise aus der Commons-Bewegung, hätten verfaßt worden sein können, wenn es heißt: "Das Klima ist ein gemeinschaftliches Gut von allen und für alle."

Wobei es natürlich eine pikante Note hat, wenn der Papst von einem "Teufelskreis" spricht, bei dem die globale Erwärmung den Kohlenstoffkreislauf beeinflußt und dieser wiederum die Erwärmung antreibt, usw. "Teufelskreis" ist allerdings ein Begriff, der auch in wissenschaftlichen Abhandlungen auftauchen kann. Die waren der Enzyklika eindeutig Vorbild, wie stellvertretend folgendes Zitat belegen soll:

"Durch das Schmelzen des Polareises und der Hochgebirgsflächen droht eine sehr gefährliche Freisetzung von Methangas, und die Verwesung der tiefgefrorenen organischen Stoffe könnte die Ausströmung von Kohlendioxid noch weiter erhöhen. Das Verschwinden der tropischen Urwälder verschlechtert seinerseits die Lage, denn sie helfen ja, den Klimawandel abzuschwächen. Die durch das Kohlendioxid verursachte Verschmutzung erhöht den Säuregehalt der Ozeane und gefährdet die marine Nahrungskette. Wenn die augenblickliche Tendenz anhält, könnte dieses Jahrhundert Zeuge nie dagewesener klimatischer Veränderungen und einer beispiellosen Zerstörung der Ökosysteme werden, mit schweren Folgen für uns alle. Der Anstieg des Meeresspiegels, zum Beispiel, kann Situationen von äußerstem Ernst schaffen, wenn man bedenkt, dass ein Viertel der Weltbevölkerung unmittelbar oder sehr nahe am Meer lebt und der größte Teil der Megastädte sich in Küstengebieten befindet." [5]

Weswegen wir zum Jahresabschluß 2015 davon ausgehen, daß das Pariser Abkommen eine Luftnummer bleibt, hat auch mit jüngeren Meldungen zu tun wie diesen:

- Nachdem Brasilien einige Jahre Erfolge im Kampf gegen die Abholzung des Amazonas-Regenwalds verzeichnet, wird nun berichtet, daß die Waldverluste von August 2014 bis Juli 2015 im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent zugenommen haben. [6]

- Zwischen der Wirkung der beabsichtigten nationalen Klimaschutzmaßnahmen, wie sie Eingang in das Pariser Abkommen gefunden haben, und der Vielzahl an weltweit geplanten neuen Kohlekraftwerken (und damit "CO2-Schleudern"), klafft eine immense Lücke, wie Anfang Dezember in einer Studie, an der auch das PIK beteiligt war, festgestellt wird. [7]

- Kaum war die Tinte des angeblich historischen Abkommens von Paris trocken, als die indische Regierung ankündigte, sie werde bis zum Jahr 2020 die Menge an Kohle zur Stromgewinnung verdoppeln und noch jahrzehntelang Kohle zur Energiegewinnung nutzen [8].

- Unterstützt wird Indien von Australien, das ebenfalls vor kurzem mitteilte, daß in unmittelbarer Nachbarschaft zum weltgrößten Korallenriff, dem Great Barrier Reef, am Abbot Point, der weltweit größte Hafen zur Verschiffung von Kohle entstehen soll. [9] Die CO2-Emissionen aus der exportierten Kohle überträfen die Emissionen von Ländern wie Österreich, Malaysia oder Städten wie New York City. [10]

Überhaupt nicht erwähnt wird in dem Pariser Abkommen der CO2-Ausstoß des Militärs. So sehr der deutsche Blätterwald gerauscht hat, als ein Bundeswehr-Airbus zweimal Kampfjets der internationalen Koalition betankt hat [11] ... Tankflugzeuge, Kampfjets und anderes Kriegsgerät samt der zu ihrer Bereitstellung und ihrem Einsatz aufgewendeten Logistik sind ungeheure Spritfesser!

- Auch wenn - vermutlich - nicht sämtliche Gletscher des Himalaya-Gebirges bis zum Jahr 2035 verschwunden sein werden, wie irrtümlich im vorletzten Weltklimabericht gemeldet, so lag dieses Versehen keineswegs sehr weit neben dem heute schon beobachtbaren Gletscherschwund im gesamten zentralasiatischen Raum. So berichteten Forscher im Wissenschaftsjournal "Nature Geoscience", daß das Hochgebirge des Tien Shan ein Viertel seines Gletschervolumens verloren hat und damit zu rechnen ist, daß das Gebirge bis 2050 die Hälfte seiner Gletscher verlieren wird. Damit würde das Trinkwasser von Millionen Menschen in Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Teilen Chinas versiegen. [12]

Doch selbst die Summe all der genannten und noch viel mehr ungenannten Einzelbeispiele, die für sich genommen Zweifel an der historischen Wende der internationalen Klimapolitik aufkommen lassen, sind nebensächlich gegenüber einem Kernargument, das gegen die unterstellten guten Absichten der internationalen Gemeinschaft spricht: Weltweit hungern an die 800 Millionen Menschen; rund zwei Milliarden Menschen sind mangelernährt - nicht erst morgen oder übermorgen, sondern hier und heute. Viele der Hungernden leben (und sterben) in klimatisch unvorteilhaften Regionen.

Wer glaubt in Anbetracht dessen noch daran, daß die gleichen Politikerinnen und Politiker, die mittels des von ihnen bevorzugten Wirtschaftssystems Hunger und Siechtum von fast einem Drittel der Menschheit in Kauf nehmen, ernsthaft darum bemüht sein werden, zukünftige Generationen in einer Welt klimatischer Umbrüche vor Hunger und Siechtum zu bewahren? Warum sollten sie das auf einmal tun?


Fußnoten:

[1] http://www.atmos-chem-phys-discuss.net/15/20059/2015/acpd-15-20059-2015.pdf

[2] http://www.defense.gov/pubs/150724-Congressional-Report-on-National-Implications-of-Climate-Change.pdf

[3] http://www.nytimes.com/2015/01/27/us/politics/kochs-plan-to-spend-900-million-on-2016-campaign.html?_r=0

[4] https://www.pik-potsdam.de/aktuelles/nachrichten/historisches-klimaabkommen-der-geist-von-paris-hat-das-gespenst-von-kopenhagen-bezwungen

[5] http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2015/2015-06-18-Enzyklika-Laudato-si-DE.pdf

[6] http://www.n-tv.de/wissen/Regenwald-am-Amazonas-schrumpft-article16444771.html

[7] http://climateactiontracker.org/assets/publications/briefing_papers/CAT_Coal_Gap_Briefing_COP21.pdf

[8] http://www.reuters.com/article/us-climatechange-summit-india-coal-idUSKBN0TX15F20151214

[9] tinyurl.com/z423lyk

[10] http://www.tai.org.au/system/files_force/Amos%202015%20Carmichael%20in%20context%20-.pdf?download=1

[11] http://www.mz-web.de/politik/bundeswehr-airbus-betankt-kampfjets-syrien-sote,20642162,32937630.html

[12] http://www.nature.com/ngeo/journal/v8/n9/full/ngeo2513.html

29. Dezember 2015


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