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KLIMA/724: Land unter - Fluchtdesaster ... (SB)



Die bisherigen Berechnungen zum globalen Meeresspiegelanstieg sind viel zu konservativ. Bis 2050 werden voraussichtlich 300 Millionen Menschen ihre Heimat verlieren, weil diese vom Meer überschwemmt wird. Allein dieser Klimaeffekt, der nur einer von vielen ist, die in den nächsten Jahren zeitgleich eintreten, wird insbesondere in Südostasien Flüchtlingsströme riesigen Ausmaßes und in Folge davon soziale Unruhen auslösen. Die "Fuck-you-Greta"-Fraktion mag verbalaggressiv gegen die Unruhestifterin vorgehen, den Kopf in den Sand stecken oder versuchen, die Warnungen der schwedischen Klimaaktivistin und Initiatorin der weltweiten Fridays-for-Future-Bewegung Greta Thunberg als Alarmismus abzutun, das alles wird nichts nutzen. Die Entwicklungen in den Natursystemen sind angelaufen, und von den sozioökonomischen Folgen werden auch Wohlstandsregionen wie Deutschland betroffen sein.

Die Frage, wie viele Menschen vertrieben werden, wenn der Meeresspiegel steigt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Geschwindigkeit des Anstiegs und der Höhe der Küsten. Man sollte meinen, daß letzteres längst geklärt ist, aber das trifft nicht zu. Die Höhe der Küsten wurde für viele Weltregionen hauptsächlich per Radar ermittelt, was jedoch zu einer deutlichen Überhöhung geführt hat. Das berichten Scott A. Kulp und Benjamin H. Strauss von der Wissenschaftsorganisation Climate Central im peer-reviewten Journal Nature Communications. [1]

Im 20. Jahrhundert ist der Meeresspiegel weltweit um 11 - 16 Zentimeter gestiegen. Gegen Ende dieses Jahrhunderts wird er selbst dann noch um weitere 50 Zentimeter höher sein, sollte die Menschheit ihre Treibhausgasemissionen drastisch reduzieren. Das tut sie allerdings nicht, und so muß man zur Zeit davon ausgehen, daß der Meeresspiegel im Jahr 2100 um mehr als zwei Meter höher liegt als heute. Inselstaaten wie die Malediven, Marshall-Inseln, Tuvalu und Kiribati werden im Meer versinken, auch weite Teile der heutigen Landfläche Bangladeschs werden sich in Meeresboden verwandeln.

Das ist hinlänglich bekannt und vielfach beschrieben. Doch Climate Central hat sich die Frage gestellt, wie viele Menschen davon betroffen sind und ihre Heimat verlieren. Laut den Neuberechnungen ist die zu erwartende Zahl der Flüchtenden dreimal so hoch, wie bislang angenommen.

Die Küsten der Vereinigten Staaten, großer Gebiete Europas und Australiens wurden relativ genau mittels des laserbasierten Systems LIDAR ausgemessen. Für die meisten übrigen Küstenstreifen jedoch liegen nur Daten des Radarsystems SRTM (Shuttle Radar Topography Mission) vor. Die Radarstrahlen haben die Eigenschaft, daß sie von der obersten Schicht der Vegetation sowie von den Hausdächern reflektiert werden und nicht in jedem Fall die Oberfläche der Küsten abbilden. Der Unterschied ist natürlich gravierend, denn dadurch entsteht eine systematische Überhöhung. Das gilt vor allem für Südostasien, wo sehr viele Menschen ihre Häuser unmittelbar an die Küste gebaut haben. In flachen Küstengebieten könne ein einziges außergewöhnlich hohes Gebäude zu einer Fehleinschätzung der Küstenhöhe von 20 Metern führen, heißt es in der Studie.

Für die Frage, wie viele Menschen von Überschwemmungen bedroht sind, ist es nicht entscheidend, wie hoch sie gebaut haben, sondern wie weit über dem Meer die Basis ihrer Gebäude liegt. Die SRTM-Daten zeigen ein geschöntes Bild. Sich darüber im klaren zu sein, ist selbstverständlich wichtig für Regierungen und zukünftige Planungen. Deshalb hat Climate Central das Programm CoastalDEM (Digital Elevation Model) entwickelt, mit dem der systematische Fehler nicht vollständig, aber weitgehend herausgerechnet werden kann und eine größere Annäherung an die Realität erreicht wird.

Den Neuberechnungen zufolge wird bis zum Jahr 2050 eine Landfläche, auf der heute 300 Mio. Menschen leben, von Überschwemmungen betroffen sein. Bis Ende des Jahrhunderts wird das Land von 200 Mio. Menschen dauerhaft unterhalb der Hochwasserlinie liegen - heute sind es 110 Mio. Menschen. Gegenwärtig werden die meisten von ihnen durch Deiche oder andere Küstenschutzmaßnahmen vor dem Meer geschützt. Ob diese Einrichtungen genügen, wenn das Wasser weiter steigt, ist fraglich. Rund 75 Prozent von Überschwemmungen bedrohten Menschen leben in China, Bangladesch, Indien, Vietnam, Indonesien und Thailand. Auch Brasilien, Ägypten, Nigeria und das Vereinigte Königreich wird Land ans Meer abgeben müssen, sollten keine Schutzmaßnahmen ergriffen werden.

Alles in allem, so schreiben die Autoren von Climate Central, werden am Ende dieses Jahrhunderts 640 Mio. Menschen entweder von regelmäßigen oder dauerhaften Überschwemmungen betroffen sein. Dabei haben die Autoren für die Annahme des Meeresspiegelanstiegs ein mittleres Szenario gewählt. Das bedeutet, daß ihre Einschätzung sehr konservativ ist, mehren sich doch gerade in den letzten Jahren die Hinweise, daß das Meer schneller steigen könnte als gedacht. Das liegt zum einen an den beträchtlichen Massenverlusten des grönländischen Eispanzers, der in den letzten beiden Jahren besonders hohen Temperaturen ausgesetzt war und an dessen Gletscherzungen vergleichsweise warme Meeresströmungen angreifen, und zum anderen an der Antarktis. Der westantarktische Eisschild hat möglicherweise einen Kippunkt überschritten, so daß sein Verschwinden nicht mehr gestoppt werden kann. Und das Eis der Ostantarktis galt bis vor einigen Jahren noch als extrem stabil. Jüngere Untersuchungen zeigen jedoch, daß auch dort stärkere Schmelzprozesse eingesetzt haben.

In den letzten zehn, fünfzehn Jahren hat sich der real gemessene Meeresspiegelanstieg entlang der vom Weltklimarat angenommenen Maximalwerte bewegt. Da hierzu noch größere Unsicherheiten in der Forschung bestehen, haben sich die Forscher von Climate Central, wie gesagt, für ein mittleres Szenario, fachsprachlich Representative Concentration Pathway (RCP) 4.5 genannt, entschieden. Dieses unterstellt, daß die Staatengemeinschaft das 2015 beschlossene Übereinkommen von Paris einhält. Das ist ziemlich optimistisch, denn nicht einmal die nationalen Zusagen aus jenem Übereinkommen genügen, um die Vereinbarung, die globale Durchschnittstemperatur auf deutlich unter zwei Grad, möglichst 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu halten, zu erfüllen.

Doch selbst von jenen unzureichenden nationalen Zusagen sind viele Staaten noch weit entfernt, so daß voraussichtlich im Laufe dieses Jahrhunderts der Kampf um Ressourcen und Territorien sowohl zwischen den Staaten als auch innerhalb der Staaten zugespitzt wird. Denn wenn immer mehr Menschen auf einer immer kleineren Fläche leben müssen, Siedlungs- und Bewirtschaftungsflächen verschwinden und die Häufigkeit und Intensität von Naturkatastrophen (Dürren, Stürmen, Hitzewellen, Überschwemmungen, etc.) anwachsen, so daß sich Hunger und Mangelernährung ausbreiten, dürfte eine Abkehr von der bisher bevorzugten Überlebensratio, bei der die eigenen Vorteile stets zu Lasten des anderen errungen werden, schwerer fallen als unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen.


Fußnote:

[1] https://www.nature.com/articles/s41467-019-12808-z

4. November 2019


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