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BERICHT/147: Bauchtanz - Quelle spiritueller Kraft (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 98, 4/06

Die Kraft der Mitte
Bauchtanz als Quelle spiritueller Kraft

Von Andrea Hiller


Der folgende Beitrag geht anhand eines Buches und eines Workshops der Autorin Rosina-Fawzia Al-Rawi dem historischen Phänomen von Tanz und spiritueller Kraft von Frauen im so genannten "orientalischen" Raum anhand des Bauchtanzes nach, dessen Funktion sich im Lauf der Zeit von weiblicher Spiritualität hin zur erotischen Stimulation von VoyeurInnen gewandelt hat.


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"Die Ehrung des Lebens beginnt bei sich selbst. Um Mitgefühl für andere zu haben, braucht man zuerst Mitgefühl für sich selbst. Am besten lässt sich das mit Humor und einem Lächeln im Gesicht erreichen, dann ist es schwierig, sich gegenseitig zu beschimpfen", pointierte Rosina-Fawzia Al-Rawi. Ihre Kindheit verbrachte Al-Rawi im Irak und Libanon, studierte Ethnologie und Arabistik in Kairo und Wien und gab als spirituelle Lehrerin beim diesjährigen Kongress des Vereins "Pacha Mama" zum Thema "Gesundheit und Spiritualität"[1] ihr Wissen über die Kunst des Bauchtanzes weiter, das sie in ihrem Buch "Der Ruf der Großmutter oder die Lehre des wilden Bauches" veröffentlichte. Auszüge daraus werden hier kurz zusammengefasst.

Der Tanz ist die älteste und elementarste Form der spirituellen Äußerung, er ist Magie als getanztes Ritual. Ihre magische Verbundenheit mit dem Lebendigen machte die Frau auch zur Ratgeberin und später zur Priesterin der weiblichen Gottheiten, da sie um die Geheimnisse des Lebens wusste.


Der Tanz der Ischtar

Eine der ältesten Archetypen der Großen Mutter hieß Ashar, besser bekannt als Ischtar, eine babylonische Göttin, die einerseits Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin war, andererseits für Tod und Zerstörung stand. Sie wurde oft mit leuchtenden Augen, dem Symbol für Licht und Geist, und mit einem leuchtenden Nabel dargestellt, dem Symbol für Fruchtbarkeit und Tod. Auf Ischtars Haupt ruhte die Mondsichel. Oft ist Ischtar mit aus den Schultern hervorsprießenden Ähren abgebildet, Symbol für die Erde und die Nahrung.

In einer Kultur, in der Fruchtbarkeit existentiell wichtig war, gehörten die Zusammenhänge zwischen Sexualität, Menstruation und Geburt zum Alltagswissen. So war die für die Fruchtbarkeit zuständige Gottheit die Mondgöttin.

Der Mythos von Ischtar erzählt, dass sie in die Unterwelt hinab stieg, um ihren Mann Tammuz zu retten. Sie schmückte sich mit aller Pracht, band sich einen Hüftgürtel um, legte sich sieben Schleier um und ging durch die Tore in die Unterwelt. Als Liebesgöttin tanzte sie verführerisch bei jedem Tor, hinterließ jedes Mal einen Schleier und verschaffte sich somit Eingang. Solange Ischtar in der Unterwelt weilte, stand alles Leben still auf Erden; es gab keine Liebe, kein Wachstum und keine Feste. Erst als sie wieder, mit ihren Schleiern bedeckt und somit ihre Geheimnisse vor den Augen der Menschen verbergend, aus der Unterwelt zurückkam, spross das Leben auf Erden wieder. Ihre Vereinigung mit Tammuz wurde jedes Jahr zu Frühlingsbeginn gefeiert. Sie stand für das Wiedererwachen der Natur und des Lebens.


Fruchtbarkeitstänze

Ischtars Schleiertanz lebte in der Geschichte weiter. Es ist anzunehmen, dass sie ähnliche Bewegungen ausführte, wie sie beim Bauchtanz üblich sind. Der Gürtel oder das Tuch, die bis heute von jeder tanzenden Frau im Nahen Osten um die Hüfte gebunden werden, erinnern an Ischtars Tanz und machen die heutige Frau so zur Interpretin einer vergangenen Kultur.

Blut- und Fruchtbarkeitsrituale fanden - meist in der Nacht - unter Ausschluss der Männer statt. Die Plätze, die dafür ausgesucht wurden, lagen meist auf Hügeln beziehungsweise an hochgelegenen Orten. Diese Hügel standen für das Weibliche, sie erhoben sich sanft aus der Erde wie der Bauch. Oben, auf dem Nabel, tanzten die Frauen der Urgesellschaft.

Da es Fruchtbarkeitstänze waren, spielte der Bauch eine wesentliche Rolle. Die Tänze dienten der Stärkung der sexuellen Kraft, die Lebensfreude wurde geweckt und das Geheimnis des Lebens gepriesen. Die Frauen tanzten einen Tanz, der ihrem Körper entsprach und der all die Stimmungen und Gefühle, all die Sehnsüchte, Leiden und Freuden einer Frau ausdrückte. Durch ihn brachten sie sich in Einklang mit dem Universum, er gab sie dem Leben und dem Göttlichen hin. Und welcher Tanz konnte dies klarer und leidenschaftlicher ausdrücken als der Bauchtanz! Er kann als der älteste Tanz angesehen werden, den je eine Frau getanzt hat, als ältester Tanz der Zivilisation schlechthin.


Das Herz zittern machen

Durch den Tanz wurde die Sehnsucht ausgedrückt, über sich selbst hinauszuwachsen und dem Göttlichen näher zu kommen. Das Gebet war etwas Allumfassendes, bei dem der Mensch seine Emotionen und Gefühle und Grenzen überschritt. Sein ganzes Sein zitterte mit in seiner Anbetung, und zur völligen Öffnung diente der Tanz als wesentliches Element. Der Mensch erfährt seinen Körper als Medium, um einen spirituellen Zustand zu erreichen. Der Körper gab ihm die Möglichkeit, sein "Ich" aufzulösen und so dem Göttlichen näher zu rücken. Noch heute wird dies in vielen Religionen praktiziert, so etwa bei den Sufis, den mystischen VertreterInnen des Islam, die sich durch jahrhundertealte Bewegungen und Tänze in einen Zustand bringen, in dem sie des göttlichen Ursprungs eingedenk werden. Diese sakralen Tänze werden dhikr genannt, was soviel heißt wie anrufen oder (rück)erinnern an Gott. Das arabische Wort raqs für Tanz bedeutet auch "das Herz erbeben machen und zittern!" Die Mystikerin Dorothee Sölle formuliert das in "Mystik und Widerstand" folgendermaßen:

Was für die Sexualität der Eros, das ist für die Religion die Mystik. Schlegels Romantik: "was allein das Auge des Liebenden in dem Geliebten sieht". "Myein" bedeutet "die Augen schließen". Frei zu werden für die Inneren Welten. Ekstatische Versenkung. Die Vorwärtstreibende Kraft, die auf der Vereinigung alles Getrennten drängt. Mystische Erfahrung ist ohne Erotik nicht denkbar.

Der Tanz gibt eine Möglichkeit, den weiblichen Facetten spielerisch und leicht ins Gesicht zu blicken und selbst zu entscheiden, wo man stehen will. Der Bauchtanz ist ein Tanz, der Weiblichkeit und Spiritualität vereinigt. Vielleicht ist er deswegen so verpönt.

Die stärkste Energie, die im Körper entstehen kann, ist die sexuelle, und die Bewegungen, die diese Kraft am intensivsten hervorrufen, sind kreisende, wippende und vibrierende Bewegungen des Beckens und der Hüften sowie das Kontrahieren des Bauches - alles Formen, die im Bauchtanz enthalten sind.


Im Monotheismus

Mit dem Niedergang der weiblichen Mondreligionen und der Etablierung von monotheistischen Herrschaftskonzeptionen veränderte sich auch der Tanz der Frauen. Er bekam einen anderen Sinn und eine neue Bedeutung. Die Sinnlichkeit und die erdverbundene Sexualität, die sich durch ihren Tanz ausdrückte, ihre Verführung zum Leben sollte nicht mehr der Frau und dem Mysterium des Seins dienen, sondern zum Vergnügen und zur Stimulierung der Voyeure. Gleichzeitig erhielten die Tänze zunehmend sexuell-animierende Züge, die den weiblichen Körper zu einem Objekt der männlichen Schaulust degradierten. Die Frau wurde zur fleischlichen Inkarnation des Verdrängten, Verbotenen und bildete somit den Gegenpol zu den Trägern der patriarchalen Macht. Der heilige Charakter der Erotik, also die Verbundenheit von sexueller und spiritueller Energie, war mit dieser Lehre unvereinbar. Das zeigte sich in der großen Abneigung der Kirche gegen den Tanz im Allgemeinen, wobei die Kulttänze als Ausgeburt des Bösen angesehen wurden.

Der Westen lernte den orientalischen Bauchtanz erstmals in Gestalt tanzender "Zigeunerinnen" kennen. Diese wanderten ab dem 5. Jh. n. Chr. von Asien über Afghanistan und die Türkei nach Europa. Aber auch über Ägypten und Spanien wurden ihre schwungvolle Musik, ihre erdigen Beckentänze und Lieder verbreitet, die im krassen Gegensatz zu den bereits zunehmend formalisierten und distanzierten Paartänzen der gehobenen Gesellschaft standen. So wurden "ZigeunerInnen" zu den TrägerInnen von Künsten, die von der herrschenden gesellschaftlichen Norm abgewehrt und verdrängt wurden. Der Bauchtanz ist also nicht das Produkt einer einzigen Kultur oder einer einzigen Ethnie; er ist eine Mischform, getragen von einem Wissen, das seit Jahrtausenden besteht und sich mit den jeweiligen historischen Gegebenheiten entwickelt hat. Eines ist jedoch sicher - seine Kraft und Ausstrahlung hat er über alle Zeiten bewahrt. Doch ein Tanz wie der Bauchtanz, getragen von der weiblichen sexuellen Kraft, von Lebenserfahrungen und von Selbstwertgefühl, wird immer Anstoß und Diskussionen hervorrufen, solange zumindest, wie Sexualität, Reife und Weiblichkeit in ihrer Ganzheit nicht akzeptiert sind.


Anmerkung:
[1] Dieser Kongress wurde heuer zum zweiten Mai vom Verein 'Pacha Mama' im Otto Wagner Spital in Wien organisiert und bringt HeilerInnen aus unterschiedlichen Kulturen zusammen, die ihr Wissen in Vorträgen und Workshops weitergeben.

Literatur:
ROSINA-FAWZIA AL-RAWI: Der Ruf der Großmutter oder die Lehre des wilden Bauches (Wien 1996).

DOROTHEE SÖLLE: Mystik und Widerstand: Du stilles Geschrei (Hamburg 1997).

Zur Autorin:
Andrea Hiller ist Ethnologin, Kulturvermittlerin, Redakteurin bei Women on Air und Obfrau vom Verein Kukele (www.kukele.net). Sie lebt in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 98, 4/2006, S. 6-7
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis ab 2007: 5,-- Euro.
Abonnement ab 2007: Inland 20,-- Euro,
Ausland 25,-- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick am 22. Dezember 2006

übernommen für den SB im Internet zum 11. April 2007